Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Deshalb fällt uns Antifragilität in Zusammenhängen nicht auf, die offensichtlich – zu offensichtlich – sind. Dass sich Erfolg, Wirtschaftswachstum oder Innovationen möglicherweise aus einer Überkompensation gegen Stressoren ergeben könnten – dieser Gedanke kommt in unserer allgemein anerkannten Denkweise nicht vor. Auch in anderen Bereichen bemerken wir nicht, dass Überkompensation am Werk ist. (Und Kontextabhängigkeit ist auch der Grund dafür, dass es vielen Wissenschaftlern so viel Mühe macht zu bemerken, dass Ungewissheit, lückenhaftes Verstehen, Unordnung und Volatilität alle zu ein und derselben Familie gehören.)
Dieser Mangel an Transfervermögen ist eine mentale Behinderung, die mit unserem Menschsein zu tun hat, und wir erlangen nur dann Weisheit oder Vernunft, wenn wir uns bemühen, diese Behinderung zu überwinden.
Betrachten wir zunächst den Komplex der Überkompensation genauer.
5 Ein paralleler Fall: Konkavität ist Konvexität mit vorangestelltem Minuszeichen und wird manchmal auch als Antikonvexität bezeichnet.
6 Ich habe außer dem Brooklyn-Englisch die meisten indoeuropäischen Sprachen überprüft, sowohl alte (Latein, Griechisch) als auch neue Sprachen: die romanischen (Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch), die slawischen (Russisch, Polnisch, Serbisch, Kroatisch), die germanischen (Deutsch, Holländisch, Afrikaans) sowie die indoiranischen (Hindi, Urdu, Farsi) Sprachen. Auch die nicht-indoeuropäischen Sprachfamilien wie das Semitische (Arabisch, Hebräisch, Aramäisch) und die Turksprachen (Türkisch) kennen den Gegenbegriff nicht.
Kapitel 2
Überkompensation und Überreaktion,
wohin man schaut
Kann man auf dem Rollfeld von Heathrow Texte verfassen? – Versuchen Sie, den Papst dazu zu bewegen, Ihre Schriften zu verbieten – Wie man einen Wirtschaftswissenschaftler verprügelt (aber gerade nur so stark, dass man eine Gefängnisstrafe aufgebrummt bekommt)
Meine ganz persönliche Kontextabhängigkeit wurde mir eines Tages bewusst, als ich im Büro von David Halpern saß, einem britischen Politiker und Regierungsberater. Er erwähnte – als Reaktion auf meine Idee von der Antifragilität – ein Phänomen, das sich »posttraumatisches Wachstum« nennt; es ist das Gegenteil des posttraumatischen Stresssyndroms: Menschen, die davon betroffen sind, wachsen aufgrund belastender Ereignisse in der Vergangenheit über sich selbst hinaus. Ich hatte noch nie davon gehört und war auch, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, nie auf den Gedanken gekommen, dass es so etwas geben könnte: Einige wenige Veröffentlichungen zu diesem Thema liegen vor, aber außerhalb einer engen Disziplin wird nicht viel Aufhebens darum gemacht. Wir kennen den drastischeren Begriff der posttraumatischen Störung aus dem intellektuellen und (angeblich) wissenschaftlichen Vokabular, von posttraumatischem Wachstum hört man hingegen nie. Die Volksweisheit aber kennt das Gegenstück durchaus – es kommt in der Wendung zum Ausdruck, dass »Leiden den Charakter bildet«. Ebenso präsent ist es in der klassischen Antike und dem Wissen von Großmüttern.
Intellektuelle neigen dazu, eher die negativen Reaktionen auf Zufälligkeit (Fragilität) zu sehen und nicht so sehr die positiven (Antifragilität). Das betrifft nicht nur die Psychologie – es gilt für sämtliche Bereiche.
Wie kann man Innovationen anstoßen? Erstens: Man sollte zusehen, dass man sich in Schwierigkeiten bringt. Die Schwierigkeiten müssen ernsthaft, dürfen aber natürlich nicht lebensbedrohlich sein. Ich behaupte – und das ist meine Überzeugung, nicht nur eine Spekulation –, dass sich Innovation und Zuwachs an kultivierter Gewandtheit aus Notsituationen ergeben, und zwar in einem Ausmaß, das die bloße Aufhebung dieser Notsituation bei weitem übersteigt (aufgrund der unbeabsichtigten Nebenwirkungen einer Ausgangsidee oder dem Ansatz zu einer Erfindung). Diesen Gedanken haben schon große Denker vor uns formuliert – so besagt etwa ein lateinisches Sprichwort, Kunstfertigkeit werde aus Hunger geboren ( artificia docuit fames). Die Idee taucht in der Literatur der Antike immer wieder auf, bei Ovid (Widrigkeiten wecken den Verstand – ingenium mala saepe movent ), was im Brooklyn-Englisch zu der Maxime geführt hat: »Wenn das Leben dir Saures gibt, mach Limonade draus.« (»When life gives you a lemon, make lemonade.«) Bei der Überreaktion auf Rückschläge wird überschüssige Energie freigesetzt, und sie
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