Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Stressoren – zu befreien, im Gegenteil: Das kann geradezu einer Schädigung gleichkommen.
Kontextunabhängigkeit ist vom Kontext abhängig
Die Vorstellung, dass Systeme ein gewisses Maß an Stress und Unruhe brauchen, wird von denen nicht verstanden, die sie für einen bestimmten Kontext zwar nachvollziehen und umsetzen, aber nicht dazu in der Lage sind, sie auf andere Kontexte zu übertragen. Hier macht sich die Kontextabhängigkeit unseres Denkens bemerkbar – unter »Kontext« verstehe ich einen bestimmten Tätigkeitsbereich, eine bestimmte Handlungskategorie. Manche Leute können einen Sachverhalt in einem bestimmten Kontext, beispielsweise der Medizin, nachvollziehen, in einem anderen, etwa auf sozialem oder wirtschaftlichem Gebiet, dagegen nicht. Oder sie begreifen etwas im Klassenzimmer, aber nicht im komplexeren Gefüge der Straße. Es fällt Menschen offenbar schwer, Sachverhalte außerhalb der Kontexte, in denen sie sie kennengelernt haben, wiederzuerkennen.
Ein schlagendes Beispiel für Kontextabhängigkeit hatte ich auf einer Hotelzufahrt in der Pseudostadt Dubai. Ein Mann, seinem Aussehen nach ein Banker, ließ seine Koffer von einem Gepäckträger in Livree tragen (ich erkenne an winzigen Merkmalen sofort, ob jemand ein bestimmter Typ von Banker ist – ich bin gegen diese Leute allergisch; das geht so weit, dass ich Atemprobleme bekomme). Ungefähr fünfzehn Minuten später sah ich denselben Mann, wie er im Fitnessstudio mit Hanteln arbeitete, wobei er natürliche Vorgänge imitierte – er benutzte Kugelhanteln genau so, wie er einen Koffer tragen würde. Kontextabhängigkeit gibt es überall.
Darüber hinaus werden Mithridatisation und Hormesis bisweilen nicht nur in (bestimmten) medizinischen Kreisen zwar anerkannt, in anderen Bereichen, etwa der Gesellschaft und der Wirtschaft, aber übersehen. Selbst innerhalb der Medizin kann es passieren, dass im einen Moment damit gearbeitet und im nächsten dem Prinzip zuwidergehandelt wird. Ein und derselbe Arzt empfiehlt Ihnen regelmäßiges Training, damit Sie »stärker werden«, und wenige Minuten später verschreibt er Ihnen Antibiotika gegen eine harmlose Erkältung, damit Sie »nicht krank werden«.
Ein weiterer Ausdruck von Kontextabhängigkeit: Fragen Sie einen Bürger der USA , ob eine halbamtliche Behörde, die weitgehend unabhängig (ohne Einmischung durch den Kongress) agieren kann, den Preis von Autos, Tageszeitungen und Weinen aus dem Malbec (seiner favorisierten Anbauregion) kontrollieren sollte. Er würde empört aufspringen, denn das würde doch offensichtlich sämtliche Prinzipien verletzen, für die das Land steht; wahrscheinlich würde er Sie dafür, dass Sie überhaupt auf solch einen Gedanken kommen können, als kommunistischen, postsowjetischen Maulwurf beschimpfen. So weit, so gut. Dann fragen Sie ihn, ob diese Regierungsbehörde die Devisen kontrollieren sollte, hauptsächlich den Preis des Dollar im Verhältnis zum Euro und dem mongolischen Tugrik. Dieselbe Reaktion: Wir sind doch hier nicht in Frankreich! Und dann weisen Sie ihn höflich darauf hin, dass eine der Funktionen der amerikanischen Federal Reserve Bank darin besteht, den Preis einer anderen Ware beziehungsweise einen anderen Preis zu kontrollieren und zu manipulieren, nämlich den so genannten Diskontsatz, den Zinssatz der Wirtschaft (und sie hat gezeigt, dass sie gut darin ist). Ron Paul, der Präsidentschaftskandidat der Libertarian Party, wurde als Spinner bezeichnet, weil er die Abschaffung der Federal Reserve Bank forderte oder zumindest eine Einschränkung ihrer Befugnisse. Aber man hätte ihn auch dann einen Spinner genannt, wenn er vorgeschlagen hätte, Behörden einzuführen, die andere Preise kontrollieren.
Stellen Sie sich einen Menschen vor, der zwar sprachbegabt ist, aber nicht dazu in der Lage, Vorstellungen von der einen Sprache in die andere zu übertragen; er müsste also jedes Mal, wenn er eine neue Sprache lernt, auch aufs Neue lernen, was ein »Stuhl«, »Liebe« oder »Apfelkuchen« ist. Er könnte nicht erkennen, welches Objekt hinter dem englischen »house«, der spanischen »casa« oder dem semitischen Wort »byt« steht. In gewisser Weise sind wir alle ähnlich behindert – unfähig, eine bekannte Idee zu erkennen, wenn sie uns in einem anderen Kontext präsentiert wird. Man könnte geradezu den Eindruck gewinnen, wir seien dazu verdammt, von der Oberfläche der Dinge, der Verpackung, dem Geschenkpapier in die Irre geführt zu werden.
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