Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Jungfrauen und anderen Annehmlichkeiten würde diese Selbstmordattentäter antreiben; der Anthropologe Scott Atran wies darauf hin, dass die ersten Selbstmordattentäter in der Levante Revolutionäre mit griechisch-orthodoxem Hintergrund – also Angehörige meines Stamms – waren und keine Islamisten.
In unserem Inneren gibt es eine Art Schalter, der das Individuelle zugunsten der Gesamtheit ausknipst, etwa wenn sich Menschen bei Volkstänzen, Aufständen oder im Krieg zusammentun. Die eigene innere Verfassung entspricht dann vollkommen der der Herde. Man ist Teil dessen, was Elias Canetti die rhythmische und stockende Masse nennt. Eine weitere Spielart dieser Massenerfahrung könnte sich Ihnen bei Ihrer nächsten Teilnahme an einer Straßenschlacht eröffnen, bei der die Furcht vor den Autoritäten im Begeisterungstaumel der Gruppe voll und ganz untergeht.
Lassen Sie uns diesen Gedanken allgemeiner fassen. Aus einer gewissen Distanz erkenne ich eine immense Spannung zwischen dem Menschen und der Natur, eine Spannung in der Verteilung der Fragilitäten. Die Natur strebt ihr eigenes Überleben, das Überleben der Gesamtheit an, nicht dasjenige jeder einzelnen Gattung – und jede einzelne Gattung ist ihrerseits daran interessiert, dass die Individuen fragil sind (besonders wenn die Aufgabe der Reproduktion erledigt ist), damit sich die evolutionäre Selektion vollziehen kann. Der Transfer von Fragilität von den Individuen auf die Gattung ist für das Überleben des Ganzen notwendig: Gattungen sind potentiell antifragil, denn DNA ist Information, die Mitglieder einer Gattung aber sind vergänglich, sie sind potentiell und faktisch Opfer für das Wohl der Gesamtheit.
Zum Teufel mit der Antifragilität. Einige der hier vorgetragenen Ideen zu Fitness und Selektion bereiten mir tiefes Unbehagen, und die Abfassung bestimmter Passagen ist daher alles andere als angenehm – ich verabscheue die Erbarmungslosigkeit des Selektionsprozesses, die unerbittliche Treulosigkeit von Mutter Natur. Ich verabscheue die Vorstellung, dass Verbesserung nur dadurch zustande kommt, dass andere geschädigt werden. Als Humanist empöre ich mich über die Antifragilität von Systemen auf Kosten von Individuen, denn wenn man den Gedanken konsequent zu Ende denkt, dann spielen wir Menschen als Individuen keine Rolle.
Die große Leistung der Aufklärung bestand darin, das Individuum in den Vordergrund gerückt zu haben, mitsamt seinen Rechten, seiner Freiheit, seiner Unabhängigkeit, seinem »Streben nach Glück« (was auch immer »Glück« heißen mag) und vor allem seiner Privatsphäre. Antifragilität wurde zwar geleugnet, doch die Aufklärung und die darauf folgenden politischen Systeme befreiten uns (in gewissem Umfang) von der Vorherrschaft der Gesellschaft, des Stamms und der Familie, die die Geschichte zuvor bestimmt hat.
Die maßgebliche Einheit in traditionellen Kulturen ist das Kollektiv, und das Kollektiv kann durch das Verhalten eines Individuums geschädigt werden – die Ehre der Familie wird befleckt, wenn beispielsweise eine Tochter schwanger wird, wenn ein Familienmitglied sich an ausgedehnten finanziellen Betrügereien und Ponzi-Schemata beteiligt oder – schlimmer noch – wenn es gar Seminare in der Augenwischer-Disziplin der Finanzwissenschaften abhält.
Und diese Konventionen haben Bestand. Im ländlichen Frankreich war es beispielsweise sogar im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert noch üblich, dass jemand seine gesamten Ersparnisse drangab, um die Schulden eines entfernten Vetters zu tilgen (man nannte diese Praxis passer l’éponge , also den Schwamm herüberreichen, damit die Schuld von der Tafel gewischt werden konnte), und er tat das, damit die Würde und der gute Name der Großfamilie nicht beschädigt wurden. Das galt als Pflicht. (Ich gestehe, selbst etwas Derartiges sogar noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts getan zu haben!)
Natürlich liegt ein Zweck des Systems auch darin, dass das Individuum überlebt. Man muss also vorsichtig sein, wenn man in komplexen und vernetzten Zusammenhängen ein bestimmtes Interesse im Vergleich zu anderen allzu stark herausstreicht. 19
In der Cosa Nostra, dem sizilianischen Teil der Mafia, bedeutet »Ehrenmann« ( uomo d’onore) , dass derjenige, der von der Polizei festgenommen wird, seinen Mund hält und seine Freunde nicht verpfeift, ungeachtet der Vorteile, die ihm selbst daraus erwachsen könnten; eher geht man ins Gefängnis, als dass man durch Absprachen mit
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