Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
wahrscheinlich, dass sie Lobbyisten haben.
Derselbe Bottom-up-Effekt gilt in der Rechtsprechung. Der italienische Politik- und Rechtsphilosoph Bruno Leoni sprach sich für die Einführung eines richterbasierten Rechts aus, da es – im Vergleich zu expliziten, rigiden Kodifizierungen – aufgrund höherer Diversität robuster ist. Zwar käme die Wahl des Gerichtshofs dann unter Umständen einem Lotteriespiel gleich – andererseits würde man Fehlern im großen Maßstab vorbeugen.
Ich arbeite mit dem Beispiel der Schweiz, um die natürliche Antifragilität politischer Systeme zu belegen und um zu zeigen, wie Stabilität dadurch erreicht wird, dass man ein gewisses Grundrauschen zulässt und managt und auf diese Weise über einen Mechanismus verfügt, mit dem man den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen kann, ohne zu versuchen, dieses Grundrauschen zu minimieren.
Bemerkenswert ist übrigens noch ein weiteres Spezifikum der Schweiz: Obwohl es womöglich das erfolgreichste Land in der Geschichte der Menschheit ist, spielt akademische Bildung dort im Vergleich mit den anderen reichen Nationen eine untergeordnete Rolle. Sein Ausbildungssystem, auch das der Banken, beruht gegenwärtig vor allem auf praktischen Unterrichtsmodellen, auf Lehrverhältnissen, die stark am Beruf selbst und nicht an Theorien ausgerichtet sind. Mit anderen Worten, auf téchne (Handwerk und know how ), nicht auf epistéme (Buchwissen, know what ).
Raus aus Extremistan
Schauen wir uns nun die technische, eher statistische Seite davon an, wie sich menschliches Handeln auf die Volatilität von Prozessen auswirkt. Der Bottom-up-Volatilität liegt eine bestimmte mathematische Eigenschaft zugrunde, die auch die Volatilität natürlicher Systeme besitzt. Diese Volatilität erzeugt die Art von Zufälligkeit, die ich als Mediokristan bezeichne – viele Variationen, die zwar für sich genommen beängstigend wirken können, sich aber im Ganzen gesehen gegenseitig aufheben (im Lauf der Zeit oder wenn man die Gesamtheit der Gemeinwesen betrachtet, die ein größeres Bündnis oder eine größere Einheit bilden) – im Gegensatz zu dem ungebärdigen Extremistan, wo ganz überwiegend Stabilität vorherrscht und nur gelegentlich ungeheures Chaos ausbricht; hier haben Irrtümer weitreichende Konsequenzen. Das eine fließt, das andere springt. Im einen kommen viele kleine Variationen vor, im anderen treten sie geballt auf. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Zufälligkeit entspricht dem zwischen dem Einkommen eines Taxifahrers und dem eines Bankangestellten, und er ist qualitativer Natur.
In Mediokristan gibt es zahlreiche Variationen, keine vereinzelte extreme Variation; in Extremistan gibt es nur wenige Variationen, die dann allerdings extrem ausfallen.
Der Unterschied lässt sich gut an einem Vergleich zwischen der täglichen Kalorienaufnahme und den Zahlen des Buchhandels verdeutlichen: Ihre tägliche Kalorienaufnahme gehört nach Mediokristan. Wenn Sie die Kalorien addieren, die Sie sich in einem Jahr zuführen, macht die Kalorienanzahl eines einzelnen Tages – selbst ohne Ihre Schummeleien – keinen sehr großen Bruchteil der gesamten Jahressumme aus (nicht mehr als sagen wir 0,5 Prozent der Gesamtsumme – also 5000 Kalorien, wenn Sie 800000 Kalorien im Jahr zu sich nehmen). Die Ausnahme, das seltene Ereignis, ist also für die Gesamtheit und auf Dauer nicht von Belang. Sie können nicht an einem Tag Ihr Gewicht verdoppeln, das schaffen Sie nicht einmal in einem Monat oder einem Jahr – aber Sie können Ihren Nettowert in einem einzigen Moment verdoppeln oder halbieren.
Anders sieht es aus, wenn es um die Verkaufszahlen von Romanen geht: Mehr als die Hälfte der Verkäufe (und rund 90 Prozent der Gewinne) resultiert aus den obersten 0,1 Prozent, hier dominiert also die Ausnahme, das Ereignis, das in einem von 1000 Fällen vorkommt. Finanzielle und andere wirtschaftliche Vorgänge stammen eher aus Extremistan, und das gilt auch für die Geschichte, deren Bewegung diskontinuierlich ist und von einem Zustand in den anderen springt. 25
Abbildung 3 zeigt, dass antifragile Systeme verletzt werden, wenn man sie ihrer natürlichen Variationen beraubt (hauptsächlich im Zusammenhang mit naiven Eingriffen). Diese Logik findet außer beim Grundrauschen eines Gemeinwesens auch Anwendung bei: einem Kind, das ins Freie darf, nachdem es eine Zeitlang in einer sterilen Umgebung gelebt hat; einem System mit von oben vorgegebener diktatorischer
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