Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
Entscheidend ist hier, dass eine solche Überraschung ein Ereignis im Sinne eines Schwarzen Schwans ist, allerdings nur für den Truthahn, nicht für den Metzger.
Man kann an der Truthahn-Geschichte auch die Urform aller fatalen Fehlschlüsse ablesen: das Verwechseln der Abwesenheit eines Beweises (für eine Gefahr) mit dem Beweis für die Abwesenheit, das heißt die Nichtexistenz (dieser Gefahr); ein Fehler, der, wie ich noch zeigen werde, in intellektuellen Kreisen grassiert und aus den Sozialwissenschaften stammt.
Unsere Lebensaufgabe besteht also einfach darin zu lernen, »wie man vermeidet, ein Truthahn zu werden« oder, wenn möglich, wie man ein umgekehrter Truthahn, also antifragil wird. »Kein Truthahn sein« fängt damit an, dass man sich den Unterschied zwischen echter und künstlich hergestellter Stabilität vor Augen führt.
Der Leser kann sich unschwer ausmalen, was geschieht, wenn Zwangssysteme, in denen jegliche Volatilität erstickt wurde, explodieren. Es gibt dafür das passende Beispiel: Die Absetzung der Baath-Partei und der abrupte Sturz Saddam Husseins und seines Regimes durch die Vereinigten Staaten im Jahr 2003. Über einhunderttausend Menschen starben, und zehn Jahre später ist in dem Land immer noch keine Ruhe eingekehrt.
Zwölftausend Jahre
Ich habe die Diskussion um Staatsformen mit dem Beispiel der Schweiz begonnen. Gehen wir jetzt etwas weiter Richtung Osten.
Die nördliche Levante, grob gesprochen der heutige nördliche Teil von Syrien und Libanon, war über den langen, sehr langen Zeitraum vom präkeramischen Neolithikum bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, also die allerjüngste Zeit hinein, die wohlhabendste Provinz in der Geschichte der Menschheit. Das sind zwölftausend Jahre – verglichen etwa mit England, das seit etwa vierhundert Jahren prosperiert, oder Skandinavien, das erst seit weniger als dreihundert Jahren ökonomisch erfolgreich ist. Wenige Regionen auf der Erde haben es geschafft, sich mit so großer Kontinuität über einen derart langen Zeitraum hinweg – was Historiker die longue durée nennen – zu behaupten. Andere Städte kamen und gingen; Aleppo, Emesa (das heutige Homs) und Laodikeia (Lattakia) blieben immer vergleichsweise wohlhabend.
In der nördlichen Levante dominierten von alters her einerseits die Händler, was vor allem auf die geographische Lage der Levante als wichtige Station an der Seidenstraße zurückzuführen ist; andererseits die Großgrundbesitzer, da die Provinz einen Großteil der mediterranen Welt, vor allem Rom, mit Weizen versorgte. Von hier stammten einige römische Kaiser, einige katholische Päpste in der Zeit vor den Schismen, über dreißig griechischsprachige Schriftsteller und Philosophen (darunter mehrere Vorsteher in Platons Akademie) und schließlich auch die Vorfahren des amerikanischen Visionärs und Unternehmers Steve Jobs, der uns den Apple Computer bescherte, auf deren einem ich gerade diese Zeilen überarbeite (sowie das iPad, auf dem Sie diese Zeilen womöglich jetzt lesen). Von Aufzeichnungen aus römischer Zeit wissen wir, dass die Provinz autonom war und seinerzeit von lokalen Eliten geleitet wurde, also unter einer dezentralen Regierung durch Ortsansässige stand, die die Osmanen später beibehielten. Die Städte prägten ihre eigenen Münzen.
Dann ereignete sich zweierlei. Zum einen wurde nach dem Ersten Weltkrieg ein Teil der nördlichen Levante in die neu geschaffene Nation Syrien integriert und abgetrennt vom anderen Teil, der jetzt zum Libanon gehört. Bis dahin war das gesamte Gebiet Teil des Osmanischen Reichs gewesen, hatte aber als quasi autonome Region agiert – die Osmanen übertrugen ebenso wie die Römer vor ihnen lokalen Eliten die Verantwortung, solange genügend Steuern bezahlt wurden, und konzentrierten sich auf ihre eigenen Kriegshändel. Die osmanische Art von Reichsfrieden, die Pax Ottomana, war wie ihre Vorgängerin, die Pax Romana , günstig für den Handel. Es wurde für die Durchsetzung von Verträgen gesorgt, was letztlich der wichtigste Existenzgrund für Regierungen ist. In seinem kürzlich erschienenen nostalgischen Buch Levant dokumentiert Philip Mansel, wie die Städte im östlichen Mittelmeerraum als vom Hinterland unabhängige Stadtstaaten operierten.
Dann, wenige Jahrzehnte nach der Gründung Syriens, machte sich die modernistische Baath-Partei daran, ihre Visionen von Utopia durchzusetzen. Sobald die Baathisten die Region zentralisierten und ihre staatlichen Gesetze
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