Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (German Edition)
durchdrückten, begann in Aleppo und Emesa der Niedergang.
Die Baath-Partei mit ihrem »Modernisierungsprogramm« beseitigte das archaische Durcheinander der Suks und ersetzte es durch den nüchtern-klaren Modernismus von Bürogebäuden.
Der Effekt wurde sofort sichtbar: Über Nacht verließen die handeltreibenden Familien das Land. Die Juden siedelten nach New York und New Jersey über, die Armenier nach Kalifornien, die Christen nach Beirut. Beirut bot eine dem Handel aufgeschlossene Atmosphäre, und der Libanon war ein harmloser, kleinerer, unorganisierter Staat ohne eigentliche Zentralregierung. Der Libanon war klein genug, um ein in sich geschlossenes Gemeinwesen zu bilden, kleiner als eine Großstadtregion mittlerer Größe.
Krieg, Gefängnis oder beides
So hatte der Libanon zwar alle richtigen Eigenschaften, doch der Staat ließ zu viel Freiraum, und indem er den verschiedenen palästinensischen Lagern erlaubte, Waffen zu besitzen, verursachte er ein Wettrüsten zwischen den Gemeinden und sah tatenlos zu, wie sich das Unheil zusammenbraute.Desorganisation kann stärkend wirken, der Libanon allerdings war etwas zu desorganisiert. Es war, als würde man jedem Mafiaboss in New York erlauben, eine größere Truppe zu haben als die Joint Chiefs of Staff, also alle Polizeistabschefs zusammen (man stelle sich John Gotti mit Raketen vor). Und so begann 1975 im Libanon ein verheerender Bürgerkrieg.
Es gibt einen Satz, der mich bis heute verfolgt; er stammt von einem Freund meines Großvaters, einem reichen Kaufmann aus Aleppo, der vor dem Baath-Regime geflohen war. Als mein Großvater während des libanesischen Kriegs seinen Freund fragte, warum er nicht nach Aleppo zurückkomme, gab dieser die kategorische Antwort: »Wir Bürger von Aleppo ziehen Krieg dem Gefängnis vor.« Ich nahm zuerst an, er rechne damit, dass sie ihn in Syrien ins Gefängnis stecken würden, aber dann ging mir auf, dass er mit »Gefängnis« den Verlust politischer und wirtschaftlicher Freiheiten meinte.
Auch das Wirtschaftsleben scheint Krieg dem Gefängnis vorzuziehen. Der Libanon und Nordsyrien ähnelten sich noch vor einem Jahrhundert im Hinblick auf das Vermögen der Bürger (dem von Wirtschaftswissenschaftlern so genannten Bruttoinlandsprodukt) sehr stark, und sie hatten dieselbe Kultur, dieselbe Sprache, dieselben Ethnien, Speisen, ja sogar Witze. Alles war gleich bis auf die Herrschaft der »modernisierenden« Baath-Partei in Syrien und die wohlwollende Haltung des libanesischen Staates. Trotz eines Bürgerkriegs, der die Bevölkerungszahl drastisch reduzierte, der eine Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte verursachte und den allgemeinen Wohlstand um mehrere Jahrzehnte zurückwarf, und trotz des Chaos, das die Region erschüttert, hat der heutige Libanon einen entschieden höheren Lebensstandard – das Land ist drei- bis sechsmal so reich wie Syrien.
Auch Machiavelli erkannte diese Zusammenhänge. Jean-Jacques Rousseau zitierte ihn: »Allem Anschein nach, so Machiavelli, wurde unsere Republik inmitten all der Morde und Bürgerkriege stärker, die Bürger tugendhafter … Ein gewisses Ausmaß an Unruhe gibt den Seelen zusätzliche Kraft, und die Menschheit wächst nicht aufgrund von Frieden, sondern von Freiheit.«
Pax Romana
Der zentralisierte Nationalstaat ist kein neuzeitliches Phänomen. Faktisch hat er in fast identischer Form bereits im alten Ägypten existiert. Allerdings war das ein Einzelfall in der Geschichte, der noch dazu nicht lange Bestand hatte: Durch den Kontakt mit den verrückten, unbändigen, barbarischen, desorganisierten, lästigen Eindringlingen aus Kleinasien mit ihren Streitwagen – buchstäblich eine Killer-App – begann sich der ägyptische Staat aufzulösen.
Die altägyptischen Dynastien organisierten ihre Herrschaft nicht nach Art eines Imperiums, sondern wie einen ganzheitlichen Staat, was etwas ganz anderes ist – da damit andere Variationstypen erzeugt werden, wie ich bereits gezeigt habe. Nationalstaaten stützen sich auf eine zentralisierte Bürokratie, wohingegen Imperien wie das Römische Reich und die Dynastie der Osmanen auf lokale Eliten setzten; die Stadtstaaten konnten sich eigenständig entwickeln, prosperieren und faktisch eine gewisse Autonomie aufrechterhalten – und diese Autonomie war kommerzieller, nicht militärischer Natur, was eine ideale Voraussetzung für friedliche Zustände ist. Indem die Osmanen ihre Lehnsmänner und Vasallen davor bewahrten, in Kriege
Weitere Kostenlose Bücher