Antiheld (German Edition)
kotzen, doch wieder werde ich weggerissen, fast über den Boden geschleift, so lange, bis der Lärm in meinen Ohren nachlässt, dann tauche ich ab in eine süße Ohnmacht.
Ich wache auf, spüre feuchtes Gras, das an meinen Händen kitzelt. Die Sonne scheint über mir, das grelle Licht blendet mich. Ich zittere am ganzen Leib. Jetzt wirkt alles wie in einer beschissenen Komödie. Das Happy End wird eingeläutet, nur der leise Soundtrack fehlt noch, vielleicht irgendetwas von Mogwai. Der totale Emotionsoverkill, kleine Schauer jagen über meinen Rücken.
Bibbys Gesicht taucht vor mir auf. Mit der Sonne im Rücken erkenne ich nur vage Umrisse, doch ich weiß, dass sie es ist. Ihr Körper wirft einen langen Schatten, der mich einhüllt, und mir wird noch ein klein wenig kälter.
Dann streckt sie die Hand aus, ihre Fingerkuppen streicheln zaghaft über meine Wange. Das fühlt sich gut an, vertraut, nicht neu, sondern wie etwas, was schon immer so war . Es gibt nichts zu sagen. Ich sehe sie an, und jetzt erkenne ich ihr Gesicht, alle ihr Züge, ihr ganzes Wesen. Sie ist wunderschön.
Wir starren uns schweigend an, schließlich beugt sie sich zu mir hinunter und presst ihre Lippen auf meine.
Der Kuss schmeckt süß, unvorstellbar süß, als bestünde ihr Mund vollständig aus einer glühenden, weichen Süßigkeit.
Der Kuss dauert lange.
Es scheint, dass keiner aufhören möchte. Keiner will sich in die Verlegenheit bringen, etwas erklären zu müssen , also machen wir weiter.
Mit einer seltsamen Konzentration zermürben wir den anderen mit unserer Zunge, doch es ist ein durch und durch schönes Gefühl, sauber und ehrlich, da ist nichts Verwerfliches, nichts Künstliches. Mich wundert nichts mehr, heute ist alles möglich. Das ist die Essenz dieses Tages.
Ich ziehe sie zu mir her. Mein ganzer Körper schmerzt, ein leichtes Schwindelgefühl stellt sich ein. Wir umarmen uns. Ihre Haut riecht eigenartig herb. Alles dreht sich, ist bittersüß.
Tagebuch Nimkin
Ich liege auf meinem Bett und kann nicht atmen. Ich starre aus dem Fenster, ihr Geschmack in meinen Mund. Er ist bereits ein Teil von mir geworden. Ganz langsam versuche ich, all die seltsamen Szenen, die sich an diesem Nachmittag abgespielt haben, zu rekapitulieren. Es gibt einfach keine innere Logik, nach der man sie sortieren könnte. Alles ist einfach passiert .
Vielleicht sollte ich sie anrufen. Ich denke darüber nach, wüsste aber nicht, was ich ihr sagen sollte, was ich zu sagen hätte . Wahrscheinlich würde ich stumm bleiben, so wie ich stumm geblieben bin, als sich unsere Wege getrennt haben. Auf dieser Wiese, mitten im Gewühl aus prügelnden Bullen und blutenden Demonstranten. Das Schicksal. Schlussendlich weiß ich, dass ich es nicht tun werde.
Das Abenteuerland Humberts
Sie ist immer noch so schön wie an dem Tag, an dem ich sie kennengelernt habe. Mich hat der ungetrübte, lebensfrohe Ausdruck in ihren Augen schon damals beeindruckt. Das ist heute nicht viel anders. Trotz der Demenz und der schweren Krankheit ist sie immer noch eine Kämpferin. Eine Kämpferin, die sich niemals in sinnlosen Schlachten aufgerieben hat. Die kleinen Geheimnisse hätten sie auch nur verwirrt.
Ich weiß, dass sie sterben wird. Und sie weiß es auch. Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich kann nicht mehr tun, als sie zu begleiten. Wie steril sich das anhört. Begleiten. Als ob ich ein Kameramann wäre, der einfach nur den Todeskampf dokumentiert. Leidenschaftslos und routiniert. Ein Profi, der den Sargdeckel schließt und dann in die Kneipe geht, um sich losgelöst von all dem Verderben und der Belastung ein Fußballspiel anzusehen. Bereits nach dem ersten Schluck Bier, schon beim ersten Zug an einer frisch angezündeten Zigarette übertünchen wir den großen dunklen Gedanken mit einem lauten Mantra an das Leben selbst. Was wissen wir schon vom Sterben, wenn wir nicht gerade selber sterben?
Zärtlich drücke ich einen Kuss auf ihre Wange und streichele über das dünn gewordene Haar. Dann verlasse ich den Raum und gehe ins Arbeitszimmer. Mein Rücken schmerzt, der ergonomische Stuhl hilft nicht. Pech gehabt. So ist es, wenn man kurz vor der Pensionierung steht.
Das ist nicht das erste Zeichen für die beginnenden Abnutzungserscheinungen: Ständig verlege ich meine Lesebrille. Ich finde sie in der letzten Schublade des Sekretärs. Keine Ahnung, wie sie da hingekommen ist, aber endlich sehe ich scharf und kann die Symbole auf dem Desktop erkennen.
Der Computer
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