Antiheld (German Edition)
auf den Lernstoff eine kleine Nackenmassage. Sanftes Hinabgleiten der Hände und ein rasches, flüchtiges Berühren der Brüste. Fast verlegenes Streicheln am Hals. Scheues Durch-die-Haare-Fahren. Den Zopf lösen, ein zaghafter, schneller erster Kuss auf den Oberarm. Ihren erstaunten, aber interessierten Blick auffangen. Erwachsene Dominanz einflechten.
Es ist okay, was wir tun. Es ist vollkommen normal.
Wenn wir zusammen sind, ist es immer etwas Besonderes. Und so soll es bleiben. Ich streichle über die braunen Haare und putze mit meiner Unterhose die letzten Tropfen Sperma von ihrem Bauch.
«Hat es dir gefallen?» Sie nickt.
«Willst du noch ein Glas Cola?»
«Das wäre super!»
Ihre Zahnlücke wird größer , bemerke ich und stehe auf. «Wann warst du das letzte Mal beim Zahnarzt, Vanessa?»
«Wieso?»
Ich zucke mit den Achseln. «Nur so», antworte ich und gehe nackt in die Küche.
«Letztes Jahr, oder so?», höre ich sie sagen.
Seit ihre Mutter gestorben ist, kümmert sich niemand mehr richtig um sie. Ich fülle das Glas und setze mich wieder auf die Couch.
«Hast du Ärger mit Andor?», fragt sie und zieht einen Schmollmund. Ich sehe sie erstaunt an.
«Hat er das erzählt?» Sie nickt.
«Er hat mich geschlagen, Vanessa. Schüler dürfen ihre Lehrer nicht schlagen!»
«Ich weiß …», sagt sie und sieht aus dem Fenster.
Ich berühre sie zärtlich an der Schulter. «Dein Bruder ist kein guter Mensch, Vanessa!»
Jetzt dreht sie sich zu mir und sieht mir direkt in die Augen. «Früher hat er mir immer Nachhilfe gegeben», flüstert sie und dreht sich dann wieder weg.
Damit hat sie die Stimmung endgültig kaputtgemacht. Ich ärgere mich kurz darüber, dann versuche ich, die Situation zu retten. «Magst du mir zuerst deine Hausaufgaben zeigen?»
Sie nickt. Ich sehe, dass sie beleidigt ist, weil ich Dinge über ihren Bruder gesagt habe, die sie vielleicht nicht hören will. Sonst zieht sie bei jeder Gelegenheit über ihn her und jetzt verteidigt sie ihn plötzlich und ich bin der Böse.
«Hat es zu Hause Ärger gegeben wegen Andor?»
Während sie ihr Schulheft aufschlägt, nickt sie seufzend. «Papa war sauer und hat geweint.»
«Aber dazu hat er wirklich jeden Grund, Vanessa. Dein Bruder hat es herausgefordert.»
«Ja, aber … jetzt wird er auf der Straße landen», sagt sie mit brüchiger Stimme.
«Er wird nicht auf der Straße landen …»
«Doch!»
«Vanessa! Er wird nicht auf der Straße landen!»
«Warum hast du ihn von der Schule geschmissen?»
Ich hebe abwehrend die Hände. «Denkst du, ich war das?
Sie schüttelt verständnislos den Kopf.
«Das ist schwierig zu erklären, Vanessa.» Ich nehme mir das Schulheft und betrachte gedankenverloren die Seiten. «Lass uns deine Hausaufgaben gemeinsam durchgehen, okay?»
Teil 3 Zerfall
«Kauf mir Glauben, kauf mir Nägel aus Golgatha, kauf mir die Blume aus dem Kot, Scheinheil, kauf mir den Nihilismus tot.»
Zinga Hay
Das kleine Wunderland
Sturmfreie Bude , sagte Nadine am Telefon. Ihre Eltern sind zwei Wochen in der Schweiz. Sommerurlaub. Gut aussehen in der Sonne. Dieses Glückliches-älteres-Ehepaar-Ding. Sturmfreie Bude – das hört sich so verheißungsvoll an. Eigentlich denke ich, wir sind da rausgewachsen. Wir sind rausgewachsen aus besoffen Rumhängen, cool Rumflirten, in Vorgärten kotzen und sich gegenseitig erzählen, was man im Leben alles noch Wichtiges vorhat.
Ich drehe die Anlage auf, Debussys Nocturne. Immer wieder verwunderlich, wie diese alte Musik mich ergreift und betroffen macht. Wie sie das Gift der Melancholie verströmt, das malade Herz wachsen lässt. Hypertrophie eines verfaulenden Organs.
Manchmal wünsche ich mich mitten in die Wirren eines vergangenen Jahrhunderts, weit weg von dieser alles verschlingenden Kälte.
Wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich das Gesicht eines jungen Mannes, der niemals Liebe geben können wird. Ich sehe durch feste, makellose Haut hinter die trügerische Maske der Jugendlichkeit, und dann ist es das Gesicht eines schon immer alt gewesenen Menschen. Faltige Hände knöpfen das Hemd zu, bedienen den Laptop, zünden eine Zigarette an.
Das Haus fühlt sich an wie eine Gruft, verlassen und still. Draußen geht die Luft schwanger mit den Gerüchen des Sommers, von denen wir uns allzu oft verzaubern und betören lassen. Das kräftige Rosa des Sonnenuntergangs überzieht die gegenüberliegende Doppelgarage, Straßenlaternen brennen, obwohl es noch hell ist; sie wirken wie
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