Antiheld (German Edition)
möglichen Büchern. Seine Mutter war Kinderbuchautorin. Vielleicht liegt es daran …»
«Da hat sie ihm früher aber definitiv die falschen Bücher vorgelesen …»
Ich muss grinsen, und sie grinst ebenfalls. «Er is in der letzten Zeit etwas komisch geworden, da haste recht!»
Sie sieht an mir vorbei, ihre Mundwinkel zucken leicht. «In der letzten Zeit?», fragt sie leise, sieht mich an und sagt noch etwas, das ich nicht mehr verstehe, denn ihre Worte gehen im Geschrei unter.
Plötzlich sind alle in Bewegung. Aus einem Haufen herumstehender Demonstranten wird ein agiler Mob, der vor Adrenalin förmlich sprüht. Man kann nicht anders, man wird ergriffen . Uns reicht es einfach nicht mehr, nur die Zeichensprache des Kampfes zu verstehen. Wir wollen den Kampf wieder als Erlebnis.
In dem Moment, als sich alle Richtung Polizeiabsperrung aufmachen, lasse ich den Blick über die Menge schweifen. Fast alle, die sich bereit machen, die sich mit schwarzen Sturmmasken und Palästinensertüchern vermummen, sind jung und männlich. Ich schätze, dass die meisten noch jünger sind als ich, und dann wird mir klar, so klar wie nie zuvor, dass diese Welt einfach nicht zu retten ist, auch nicht mit einer Armee von Psychologen und Anti-Gewalt-Therapeuten.
Hier sind wir, jung, satt, gebildet, wir holen Schlagstöcke und Ketten hervor, wir sind bereit, aufs Ganze zu gehen. Wofür? Egal, die Teilnehmerliste bei Facebook ist randvoll, und es ist Wochenende. Die Sonne scheint und wir sind voll mit dieser pädagogischen Scheiße, bis oben hin voll mit diesem Unsinn, und wissen dennoch nicht wohin.
Alles, was uns bleibt, ist ein bisschen Gewalt. Einfach da rausgehen, draufhauen, sich selber spüren, voll borderline.
Und dann geht es los. Janosch vorneweg, er brüllt unverständliches Zeug, Keimlaute, Ursprache. Wir werden alle wieder zu Affen. Flaschen fliegen und zerschellen, wir werden zu einer Horde mit gemeinsamem Ziel, totale praktische Ethik .
Ich höre die Durchsagen der Polizei. Keine Ahnung, was die noch wollen, alles ist sowieso völlig außer Kontrolle. Jetzt gibt es nur noch auf die Fresse.
Die erste Brandungswelle adrenalingeladener Demonstranten wird mit aller Macht an die Absperrung gespült, seltsamerweise auch ich. Ich höre fremde Menschen neben mir atmen, neben mir schreien, die Bullen kommen immer näher. Ich begreife, wir sind dabei, einen fürchterlichen Fehler zu begehen. Von hinten presst die Meute, und dann geschehen unglaubliche Dinge: Körper prallen auf die Schilder der Bullen, drücken sich gegenseitig hoch, bilden einen regelrechten Turm aus Leibern, den lebendigen Turm zu Babel . Unten knüppeln sie in die Leiber hinein, egal ob Kinder, Frauen, Jungs, alle werden plattgemacht , bis sie auf dem Boden liegen bleiben.
Ich stemme meinen Fuß gegen ein Schild, verschaffe mir ein wenig Distanz. Es kitzelt überall, ich werde regelrecht durchströmt. Janosch rennt schreiend an mir vorbei, direkt auf einen Bullen zu, sein Schlag geht auf den Helm nieder, doch da passiert nichts, kein Blut, keine gebrochenen Knochen, einfach gar nichts. Der nächste Bulle, identitätslos, kalt und hart, zieht seine Tonfa quer durch Janoschs Gesicht, und da, Mann , Blut spritzt wie der Saft aus einer Orange, die man in der Hand zusammenquetscht. Janosch geht zu Boden, er krümmt sich und der Bulle hat Blut gerochen, im Vorbeigehen verpasst er ihm einen harten Tritt gegen den Kopf.
Ich höre ein dumpfes Geräusch, der Kopf wird in den Nacken gerissen, geschleudert. Das ist die Wahrheit, das ist kein Film. Ich spüre diffusen Brechreiz, der sich inmitten meiner Eingeweide entfaltet, dann liege auch ich am Boden, stumpfe Gewalteinwirkung über mir, an mir . Ich kann das Plastik, aus dem die Bullenuniformen hergestellt sind, riechen, so nah sind sie, überall.
Jemand packt mich am Nacken und schleift mich über den Boden. Ich vernehme Schmerzensschreie. Meine Fresse, das ist wie in Clockwork Orange . Die Realität flackert in Bruchstücken an mir vorbei. Ich schwitze stark, neben mir geht ein Mädchen zu Boden, ihre Nase ist weggeplatzt, ein einziger Krater, aus dem Blut pulsiert, gellende Schreie, irgendwie kommt mir das alles surreal vor. Ich fühle mich schwach, so schwach wie nie zuvor in meinem Leben.
Dann packt mich jemand am Ärmel und reißt mich aus der Menge, weg von diesen Bullen, diesen Riesen, diesen Schlachtern. Mein Herz pumpt, die Luft ist erfüllt mit dem Geruch von Blut, ich gehe in die Knie und will
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