Antonias Wille
Geräusch â¦
Die Mädchen kauerten über dem Mann. Sein Kopf war zur Seite gerollt, seine Augen waren geschlossen. Das Blut, das in einem hellroten Rinnsal aus dem Hinterkopf des Mannes sickerte, vermischte sich mit dem Blut der Beeren.
Rosannas Herz schlug wie wild von der Anstrengung der letzten Minuten. In ihrem Kopf surrte es, sie war zu keinem klaren Gedanken fähig. SchlieÃlich gaben ihre Knie nach und sie sank neben dem Mann zu Boden.
Simone wandte sich Rosanna zu, hölzern wie eine Marionette. »Was ist mit ihm? Ist er ⦠tot?« Sie flüsterte, als wollte sie ihn nicht wecken.
Rosanna schüttelte den Kopf, zu keiner Antwort fähig. Erst nach geraumer Weile legte sie zögernd eine Hand an den Hals des Mannes. Ein schwacher Pulsschlag klopfte gegen ihre Finger.
»Er lebt. Doch er kann dir nichts mehr tun.« Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren.
Weiter hinten im Wald begann es zu donnern.
Alpensicht im Frühjahr bedeutet gutes Wetter, aber wenn man jetzt im Herbst die Alpen sehen kann, ist das kein gutes Zeichen!
Simones Worte, auf dem Hinweg so arglos ausgesprochen, bekamen jetzt eine grausame Bedeutung.
»Heilige Mutter Maria!« Simone raufte sich mit beiden Händen die wirren Haare, schaute von der reglosen Gestalt zu Rosanna. »Der Mann ⦠er wollte ⦠Und du hast mich gerettet! Ohne dich â¦Â« Sie begann zu weinen, klammerte sich so fest an Rosannas rechten Arm, dass er wehtat.
In die drückende Schwüle fuhr plötzlich ein kalter Wind, der nach Regen roch.
Rosannas Kopf schmerzte. Der süÃliche Geruch der Beeren, der ihr vor kurzer Zeit noch das Wasser im Munde zusammenlaufen lieÃ, widerte sie nun an. Sie kämpfte gegen den aufkommenden Brechreiz.
Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf und schienen gegen ihre Stirn zu hämmern.
Wer war dieses Schwein?
Wo kam der Kerl her?
Warum hatte sie seine Schritte nicht gehört?
Warum hatte sie sich überhaupt so weit von Simone entfernt?
Ein Ruck an ihrem Arm lieà sie zusammenzucken.
»Rosanna, steh auf! Was ist, wenn er wieder zu sich kommt? Ich fürchte mich!«
Rosanna wandte sich dem jungen Mädchen zu. Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie ihn von Spinnweben befreien. Dann holte sie tief Luft.
»Du brauchst keine Angst zu haben, dem hab ichâs ordentlich gegeben. So schnell wird der nicht wieder wach!«, antwortete sie grimmig. Und wenn der Mann an seiner Kopfverletzung stirbt?, durchfuhr es sie im selben Moment. Dann war es höchste Zeit, so schnell wie möglich von hier wegzukommen â¦
Sie hievte die Milchkanne, die Simone mit Beeren gefüllt hatte, auf den Leiterkarren und wollte gerade noch einmal in den Wald hineingehen, um auch ihre Kanne zu holen, als Simone sie am Ãrmel festhielt.
Das Mädchen schlotterte noch immer am ganzen Leib, aber seine Augen leuchteten wie die eines Kindes, das gerade eine besonders schöne Puppe geschenkt bekommen hat. »Du hast mich gerettet! Du bist mein rettender Engel, Rosanna! Du bist anders als alle Menschen!«
»Blödsinn!« Rosanna schüttelte Simones Hand ab. »Du hättest dasselbe auch für mich getan. Und jetzt hilf mir lieber, die Kanne zu schleppen.«
Sie hatte noch keinen Schritt gemacht, als sich Simone ihr erneut in den Weg stellte. »Du hast mir das Leben gerettet. Das werde ich dir nie vergessen, bis in alle Ewigkeit nicht!«
Im nächsten Moment öffnete der Himmel seine Schleusen. Harte Regentropfen prasselten auf die beiden Mädchen herab.
Es sollte unser Geheimnis sein. Niemand sollte je etwas von dem, was beim Beerenpflücken geschehen war, erfahren â das lieà ich Simone schwören. Aber ich glaube, es hätte meiner Worte gar nicht bedurft. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass Simone es genoss, mit mir ein Geheimnis zu teilen.
Obwohl ich mir sagte, dass dem Mann bestimmt nicht daran gelegen sein konnte, dass der Vorfall in der Gegend bekannt wurde, überfiel mich fortan bei jedem fremden Gesicht, das ich beim Blick durch die Küchenluke in die Wirtsstube erspähte, eine panische Angst. Im Geist hörte ich ihn schon schreien: »Da ist sie! Sie hat mich niedergeschlagen!« Aber noch gröÃere Sorge bereitete mir der Gedanke, dass der Vergewaltiger womöglich durch meinen Schlag gestorben war und der Dorfbüttel erscheinen und mich holen würde.
Doch die Tage vergingen,
Weitere Kostenlose Bücher