Antonio im Wunderland
Vater hatte sich zum Heulen ins Wohn-
zimmer verzogen.
Sara hat Benno lange nicht gesehen, ein paar Jahre
vielleicht. Sie hatte mir noch erzählt, dass wir ihn wahr-
scheinlich träfen, wenn wir eine ganze Woche bei ihren
Eltern verbringen würden. Es sei sogar unausweichlich.
Sie hatte ihn mir als einen dünnen Mann um die sech-
zig beschrieben mit dicken Augenbrauen wie Bert aus
der Sesamstraße und einer Pilotenbrille. Sie fügte noch
hinzu, dass ihre Mutter ihr von einer neuen Marotte
Bennos erzählt habe. Er müsse nun seit einiger Zeit
ständig auf die Toilette und hinterließe dabei immer
Klopapier in der Schüssel. Sara nannte diese einge-
weichten Papierfahnen prosaisch «Klogespenster».
Wenn man also wissen wolle, ob Benno Tiggelkamp da
war, müsse man nur nachschauen, ob Klogespenster
auf der Toilette seien.
«Sind Sie Benno?», frage ich die geschlossene Klo-
tür. Ich bin natürlich neugierig und würde mich gerne
mit ihm unterhalten. Ich finde ihn interessant. «Hallo?»
Er antwortet nicht. Ich klopfe vorsichtig, gehe aber
dann einen Schritt zurück, denn ich höre die Klospü-
lung.
Die Tür öffnet sich. «Hä?»
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Ich gebe ihm meine Hand, dabei wird mir schlagar-
tig bewusst, dass ich zwar eine Klospülung, nicht aber
den Wasserhahn gehört habe. Zu spät. Benno sieht
mich an. Dabei zieht er die Nase ein wenig hoch und
entblößt so seine riesigen Schneidezähne.
«Gu’n Tach», sagt er und schüttelt endlos lange mei-
ne Hand. «Tiggelkamp der Name.»
Ich stelle mich ihm vor und sage: «Ich bin der Mann
von Sara. Wir haben uns ja bisher nie getroffen.»
«Man kann nich’ allet ham im Leben, wat will’se ma-
chen», sagt er ohne großes Interesse und geht ins
Wohnzimmer.
«Antonio schläft», sage ich. Ich weiß ja nicht, ob es
dem Hausherrn recht ist, wenn er unangemeldeten Be-
such während seines Sonntagmittagsschläfchens be-
kommt.
«Dä schläft immer», antwortet Benno knapp und
lässt sich auf ein Sofa fallen, um das Autorennen anzu-
sehen. Ich setze mich ihm gegenüber. Benno sucht in
der kleinen Steingutschale auf dem Couchtisch nach
Essbarem und findet ein Mon Chéri, das er langsam
entkleidet und sich in den Mund schiebt. Dann lehnt er
sich zurück und sieht in den Fernseher. Ich mache das-
selbe, wir schweigen. Von Zeit zu Zeit beugt sich Benno
vor, um in der Schale zu wühlen. Die Mon-Chéri-
Papierchen streicht er glatt und stapelt sie auf dem
Tisch. Wenn er so weitermacht, ist er gleich betrunken,
oder es wachsen ihm Kirschen aus den Ohren. Antonio
schnarcht.
Ferrari gewinnt das Rennen. Ich versuche es noch
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einmal mit ein bisschen Konversation. «Toll», sage ich.
«Gewonnen.»
«Jaja, et kütt, wie’t kütt.» 1
«Interessieren Sie sich für Motorsport?»
«Ja, sischer. Isch mein: nein.»
Ja was denn nun? Interessiert der sich nun oder
nicht?
«Also ich würde ja gerne mal in so einem Ding mit-
fahren.»
«Dat Leben is’ kein Wunschkonzert.»
Benno hat keine Lust auf ein Männergespräch. Er hat
aber auch auf Fernsehen keine Lust mehr und beginnt
nun, das Rätselheft durchzublättern.
«Unternehmen Sie manchmal was?» Ich gebe nicht
auf.
«Kegeln», gurgelt er. «Wir geh’n heut’ kegeln.»
«Ach, wie nett. Das ist ein schöner und viel zu wenig
gewürdigter Sport. Die meisten Leute spielen ja heutzu-
tage Bowling, aber das ist was für Kinder. Wer es ernst
meint, der kegelt.» Keine Ahnung, wo ich diese tiefen
Einsichten her habe, aber sie tun ihre Wirkung. Zum
ersten Mal scheine ich einen Nerv in Benno getroffen
zu haben. Er lässt die Zeitung sinken.
«Antonio hat gesagt, wir jehen alle jemeinsam zum
Kegeln.»
«Ach. Hat er?»
1 Das heißt übersetzt: «Es kommt, wie es kommt» und gehört zu den wichtigsten Wendungen im Rheinischen. Man kann das eigentlich immer sagen. Machen auch viele.
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«Ja, mit unserem Kegelverein.»
Ich wusste noch gar nicht, dass Antonio und Ursula
im Kegelverein sind, das ist mir wahrhaft neu. Benno
hebt die Plastiktüte hoch, die er mitgebracht hat, und
holt zur Veranschaulichung seiner Worte ein paar anti-
ke Sportschuhe hervor, für die junge Menschen in Ber-
lin-Mitte ein Monatsgehalt zahlen würden. Seine Ke-
gelschuhe.
Die Tür geht auf, und meine Frau kommt rein.
«Jetzt guck mal an, wer da ist», rufe ich. «Der Benno!»
«Hi, Benno», sagt meine Frau und hebt die Hand
zum Gruß. Benno grüßt zurück und sieht Sara an.
«Warst du beim
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