Antonio im Wunderland
Steuerhin-
terziehung verdächtigt. Dies lockt andere Familienmit-
glieder an und natürlich auch Wildfremde sonder Zahl,
die sehen wollen, wie ein Deutscher an ihrem Strand
stirbt. Das hatte man hier lange nicht mehr! Bald ist
mein Fuß umringt von kringelhaarigen, braun ge-
brannten Männern in knappen, aber bunten Badeho-
sen. Die sehen aus, als wollten sie sagen: «Respekt. Das
nenn ich mal ’ne Schraube.»
Marco sagt unpassenderweise: «Ich kenne einen, der
ist an so was draufgegangen.»
Darauf Gianluca: «Wen denn?»
«Jesus.» Alle lachen, bloß ich nicht, denn das hier
tut weh. Es schmerzt wirklich ungeheuerlich. Außer-
dem befürchte ich, Wundstarrkrampf, Tollwut oder
AIDS zu bekommen, wenn ich nicht gleich zum Arzt
gebracht werde. Antonio fragt Raffaele, ob dieser
Werkzeug im Auto habe, vielleicht einen Schrauben-
zieher, doch der verneint. Er macht immer alles mit
dem Hammer, er braucht keinen Schraubenzieher.
Maria ist der Ansicht, man könne gut mit einer
Schraube im Fuß leben, wenn man sie knapp absägen
würde, und ein fremder Mann mit Brusthaar, das sich
bis auf die Schulterblätter erstreckt, findet, man müsse
das Ding herausreißen und sofort die Wunde aussau-
gen, wofür er sich zur Verfügung stellt. Ich lehne ab.
Versteht man doch, oder?
Marco hat eine bessere Idee. «Wir könnten ihn ja ins
Krankenhaus bringen», schlägt er vor. Einerseits freue
ich mich über so viel Umsicht, auf der anderen Seite 116
habe ich aber auch Angst. Ich denke darüber nach,
wann ich die letzte Tetanus-Impfung hatte. So etwas
weiß man ja nie auswendig. Wahrscheinlich ist das
zwanzig Jahre her und war gar keine Tetanus-Impfung.
Und überhaupt, vielleicht kennen die so etwas hier
überhaupt nicht und halten Tetanus für eine Eissorte.
Wenn ich mich fürchte, werde ich immer ein bisschen
paranoid.
Im Augenblick habe ich jedoch keine Wahl, also fah-
re ich mit Sara und Marco ins Krankenhaus, wo ich in
einem Warteraum neben einem verheulten Teenager
und einem Greis Platz nehme, der einen ungeheuren
Insektenstich am Hals trägt und im Begriff ist, daran zu
ersticken.
Wir warten fast zwei Stunden, es wird schon Nach-
mittag, als man sich endlich um mich kümmert. Ich
habe bereits ein Badetuch durchgeblutet, und die
Wunde, in der immer noch die Schraube steckt, hat ei-
nen blauen Rand. Eine Schwester wickelt das Tuch ab
und holt den Arzt. Der stellt sich als unerfahrenes Jün-
gelchen heraus, der, kaum dass er meine Sara gesehen
hat, damit beginnt, sie anzubaggern. Ich mache auf
mich aufmerksam, indem ich laut ächze und auf mei-
nen Fuß zeige.
«Ah, eine Schraube», sagt das Ärztlein und versucht,
sie aus dem Fuß zu ziehen. Aber wenn das so einfach
wäre, hätte ich es selbst schon gemacht, buffone 1 . Nachdem er mir mit seinem Gefummel nachhaltig die Laune
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verdorben hat, hält er plötzlich inne und zeigt aus dem
Fenster. Ich sehe hin und – ratsch – zieht er das rostige
Teil aus meinem Fuß. Er reinigt die Wunde und ver-
bindet alles. Dann fragt er nach «Tetano» und gibt mir
eine Spritze. Alles nicht so wild, kein Grund zur Aufre-
gung, kann ja jedem mal passieren. Der Mann ist nett,
und fähig ist er auch. Ich soll nochmal wiederkommen,
damit er sich das ansehen kann, denn immerhin be-
steht die Gefahr einer Blutvergiftung.
Als wir in unser Ferienhaus zurückkehren, werde ich
empfangen wie ein totgeglaubter Kriegsheimkehrer.
Nonna Anna, die sonst oft spröde und ungeduldig mit
mir ist, weint sogar. Mir wird ab heute die gesamte Für-
sorge einer großen italienischen Familie zuteil. Ich tra-
ge einen Verband am Fuß, der es mir unmöglich macht,
normal zu gehen, also bekomme ich Krücken und Eis
und Melone mit Schinken, wann immer mir danach ist.
Man kann das glauben oder nicht, aber eine ärgerliche
Verletzung in den Ferien muss diese nicht verderben.
Ich bin sogar froh, dass ich in eine Schraube getreten
bin, denn auf diese Weise muss ich nicht am familiären
Trott teilnehmen. Ich genieße das regelrecht.
Ich sitze tagelang alleine auf dem Balkon, während
meine zahlreichen Verwandten am Meer sind, und be-
obachte die Straße. Auch Nonna Anna bleibt im Haus,
ihr ist es am Strand zu heiß. Sie kocht oder döst.
Manchmal höre ich sie schnarchen. Immer wenn es ihr
gerade einfällt, bringt sie mir ein Kaffeechen oder ein
Glas Lemonsoda. Sehr angenehm! Schräg gegenüber
von unserem Haus steht ein
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