Antonio im Wunderland
der noch vor?
«Ich muss Briefe schreiben.»
«Aus dem Urlaub?», frage ich freundlich, aber es ist
schon zu spät. Er sieht mich an, als hätte ich seine Ves-
pa umgekippt, und antwortet nicht mehr. Er ver-
schwindet in der Küche und macht die Tür hinter sich
zu. Ganz klar: Er ist beleidigt.
Wir verabschieden uns, indem wir Grußformeln in
die Küche rufen. Als wir wieder auf der Straße stehen,
macht Marco mir Vorwürfe. «Wie kannst du Fabio nur
so beleidigen.»
«Kann das sein, dass ihr zwei einen an der Waffel
habt?»
«Du verstehst das nicht. Die Sache ist zu ernst, um
darüber Witze zu machen. In ein paar Tagen muss Fa-
bio wieder bei der Arbeit sein, und du versaust ihm den
Urlaub.»
«Welchen Urlaub?»
«Fängst du schon wieder davon an? Man redet nicht
drüber.»
Ich lerne also, dass ein Tabu hier unten wirklich ein
Tabu ist. Es gibt noch weitere. Auch über die Mafia
wird nicht gesprochen, das M-Wort wird nicht einmal
in ganz harmlosen Zusammenhängen benutzt. Und
über Sex darf man nicht reden, man darf noch nicht
einmal ein harmloses Witzchen darüber machen. Ein-
mal habe ich es bei meinem Schwiegervater versucht,
und das war wirklich ein Debakel.
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Er saß bei uns zu Hause am Tisch und bekam sein
Frühstück: lecker Wurstbrot und einen Espresso. Ich
selbst machte mir Milch warm und schüttete einen Es-
presso hinein. Dann sagte ich zu Antonio: «Wenn man
eine Latte Macchiato zum Frühstück trinkt, dann ist das
was? Häh?» Er zuckte mit den Schultern, und ich rief
triumphierend: «Eine Morgenlatte.» Was für ein Spit-
zenwitz! Fand ich. Antonio sah mich mit einer Mi-
schung von Abscheu und Mitleid an und trank aus sei-
nem Tässchen. Dann sagte er ernst: «Komisch, dassi
gegeben habe mein Tockter fur so ein Esel.» Ich habe
nie wieder einen anzüglichen Scherz in seiner Gegen-
wart gemacht.
Die Fahrt nach Termoli geht überraschend stressfrei
über die Bühne. Alle Mitreisenden aufzuzählen kostet
Kraft, daher hier nur ganz kurz. Meine Frau und ich
haben Nonna Anna und Cousin Marco dabei. Sie fah-
ren bei uns mit, weil sie nicht so viel Gepäck haben. Bei
mir passt kaum noch etwas rein, denn ich habe ja mei-
ne Matratze dabei. Meine Schwiegereltern haben Anto-
nios Schwester Maria (meine Lieblingstante) und ihren
Mann Egidio dabei, die beiden sind Marcos Eltern. Noi-
sy Raffael und seine Frau Maria (ja, Maria, davon gibt es
in der Familie mehr als zwei Dutzend) sind ebenfalls
mit von der Partie, sie haben ihren Sohn Gianluca und
seine Frau Barbara sowie deren Sohn Antonio dabei.
Dessen Schwester Ilaria hingegen fährt bei Super-
markt-Paolo, seiner Frau Pamela und Baby Primo mit.
Marcos Freundin hat kurzfristig abgesagt, und zwar of-
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fenbar nicht nur den Urlaub, sondern auch ihre Bezie-
hung mit Marco. Bevor wir losfuhren, gab es noch ein
längeres Telefonat, dann hockte sich Marco in unser
Auto und begann, eine SMS von alttestamentarischen
Ausmaßen zu schreiben.
Wir halten nur zweimal. Der erste Stopp dient dem
Einkauf von ungefähr einem Zentner Tomaten, weil
Nonna Anna Sauce kochen will. Die Tomaten werden
über alle Autos verteilt, ich finde noch ein Plätzchen im
Handschuhfach. Beim zweiten Halt muss Primo gestillt
werden, was von allen Frauen beobachtet und kom-
mentiert wird. Die Männer stehen rum und rauchen.
Nach zweieinhalb Stunden haben wir unser Ziel er-
reicht: das Ferienhaus. Erbaut im frühsozialistischen
Stil mit unverputzter und auf diese Weise enorm prole-
tarischer Fassade, an der ein langer Balkon klebt, der
jederzeit abfallen könnte. Dieses Haus kenne ich noch
nicht. Bisher haben wir immer woanders gewohnt.
Ich trage unser Gepäck, das der Nonna, das meiner
Schwiegereltern und unter dem Gelächter der gerade
Genannten meine Matratze ins Haus. Dies hat wie die
meisten Ferienhäuser, die ich in Italien kennen gelernt
habe, kein richtiges Wohnzimmer, aber eine Küche. In
dieser hier steht ein wahrhaft monströses Buffet, das
antiker aussieht, als es vermutlich ist. Wir werden darin
alles finden, was ein italienischer Haushalt braucht:
Wäscheleinen, Kerzen mit Papstbildern, Batterien, die
nirgendwo hineinpassen, eine Tischdecke aus Kunst-
stoff, einen Abreißkalender von 1993, ein Foto von ei-
ner unbekannten Person, die vor einer unbekannten
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Kirche steht, und eine Espressokanne. In mir steigt Pa-
nik auf, denn die schmale Ausrüstung deutet auf zwei-
erlei hin. Erstens ist
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