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Antonio im Wunderland

Antonio im Wunderland

Titel: Antonio im Wunderland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Weiler
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der noch vor?
    «Ich muss Briefe schreiben.»
    «Aus dem Urlaub?», frage ich freundlich, aber es ist
    schon zu spät. Er sieht mich an, als hätte ich seine Ves-
    pa umgekippt, und antwortet nicht mehr. Er ver-
    schwindet in der Küche und macht die Tür hinter sich
    zu. Ganz klar: Er ist beleidigt.
    Wir verabschieden uns, indem wir Grußformeln in
    die Küche rufen. Als wir wieder auf der Straße stehen,
    macht Marco mir Vorwürfe. «Wie kannst du Fabio nur
    so beleidigen.»
    «Kann das sein, dass ihr zwei einen an der Waffel
    habt?»
    «Du verstehst das nicht. Die Sache ist zu ernst, um
    darüber Witze zu machen. In ein paar Tagen muss Fa-
    bio wieder bei der Arbeit sein, und du versaust ihm den
    Urlaub.»
    «Welchen Urlaub?»
    «Fängst du schon wieder davon an? Man redet nicht
    drüber.»
    Ich lerne also, dass ein Tabu hier unten wirklich ein
    Tabu ist. Es gibt noch weitere. Auch über die Mafia
    wird nicht gesprochen, das M-Wort wird nicht einmal
    in ganz harmlosen Zusammenhängen benutzt. Und
    über Sex darf man nicht reden, man darf noch nicht
    einmal ein harmloses Witzchen darüber machen. Ein-
    mal habe ich es bei meinem Schwiegervater versucht,
    und das war wirklich ein Debakel.
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    Er saß bei uns zu Hause am Tisch und bekam sein
    Frühstück: lecker Wurstbrot und einen Espresso. Ich
    selbst machte mir Milch warm und schüttete einen Es-
    presso hinein. Dann sagte ich zu Antonio: «Wenn man
    eine Latte Macchiato zum Frühstück trinkt, dann ist das
    was? Häh?» Er zuckte mit den Schultern, und ich rief
    triumphierend: «Eine Morgenlatte.» Was für ein Spit-
    zenwitz! Fand ich. Antonio sah mich mit einer Mi-
    schung von Abscheu und Mitleid an und trank aus sei-
    nem Tässchen. Dann sagte er ernst: «Komisch, dassi
    gegeben habe mein Tockter fur so ein Esel.» Ich habe
    nie wieder einen anzüglichen Scherz in seiner Gegen-
    wart gemacht.

    Die Fahrt nach Termoli geht überraschend stressfrei
    über die Bühne. Alle Mitreisenden aufzuzählen kostet
    Kraft, daher hier nur ganz kurz. Meine Frau und ich
    haben Nonna Anna und Cousin Marco dabei. Sie fah-
    ren bei uns mit, weil sie nicht so viel Gepäck haben. Bei
    mir passt kaum noch etwas rein, denn ich habe ja mei-
    ne Matratze dabei. Meine Schwiegereltern haben Anto-
    nios Schwester Maria (meine Lieblingstante) und ihren
    Mann Egidio dabei, die beiden sind Marcos Eltern. Noi-
    sy Raffael und seine Frau Maria (ja, Maria, davon gibt es
    in der Familie mehr als zwei Dutzend) sind ebenfalls
    mit von der Partie, sie haben ihren Sohn Gianluca und
    seine Frau Barbara sowie deren Sohn Antonio dabei.
    Dessen Schwester Ilaria hingegen fährt bei Super-
    markt-Paolo, seiner Frau Pamela und Baby Primo mit.
    Marcos Freundin hat kurzfristig abgesagt, und zwar of-
    111
    fenbar nicht nur den Urlaub, sondern auch ihre Bezie-
    hung mit Marco. Bevor wir losfuhren, gab es noch ein
    längeres Telefonat, dann hockte sich Marco in unser
    Auto und begann, eine SMS von alttestamentarischen
    Ausmaßen zu schreiben.
    Wir halten nur zweimal. Der erste Stopp dient dem
    Einkauf von ungefähr einem Zentner Tomaten, weil
    Nonna Anna Sauce kochen will. Die Tomaten werden
    über alle Autos verteilt, ich finde noch ein Plätzchen im
    Handschuhfach. Beim zweiten Halt muss Primo gestillt
    werden, was von allen Frauen beobachtet und kom-
    mentiert wird. Die Männer stehen rum und rauchen.
    Nach zweieinhalb Stunden haben wir unser Ziel er-
    reicht: das Ferienhaus. Erbaut im frühsozialistischen
    Stil mit unverputzter und auf diese Weise enorm prole-
    tarischer Fassade, an der ein langer Balkon klebt, der
    jederzeit abfallen könnte. Dieses Haus kenne ich noch
    nicht. Bisher haben wir immer woanders gewohnt.
    Ich trage unser Gepäck, das der Nonna, das meiner
    Schwiegereltern und unter dem Gelächter der gerade
    Genannten meine Matratze ins Haus. Dies hat wie die
    meisten Ferienhäuser, die ich in Italien kennen gelernt
    habe, kein richtiges Wohnzimmer, aber eine Küche. In
    dieser hier steht ein wahrhaft monströses Buffet, das
    antiker aussieht, als es vermutlich ist. Wir werden darin
    alles finden, was ein italienischer Haushalt braucht:
    Wäscheleinen, Kerzen mit Papstbildern, Batterien, die
    nirgendwo hineinpassen, eine Tischdecke aus Kunst-
    stoff, einen Abreißkalender von 1993, ein Foto von ei-
    ner unbekannten Person, die vor einer unbekannten
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    Kirche steht, und eine Espressokanne. In mir steigt Pa-
    nik auf, denn die schmale Ausrüstung deutet auf zwei-
    erlei hin. Erstens ist

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