Antonio im Wunderland
hier eingebrochen worden, denn
es gibt nicht einmal mehr verbogenes Besteck, das
sonst zwingend in italienischen Ferienhäusern vor-
kommt. Womöglich ist der Raub nicht lange her, und
das bedeutet, dass die Diebe in Kürze zurückkehren
und uns, mich!, ausplündern. Und zweitens muss jetzt
improvisiert werden. Ich fürchte dies weit mehr als den
Diebstahl meiner Matratze, denn Improvisation bedeu-
tet Chaos, und Chaos bedeutet Antonio. Passend dazu
übrigens auch der Spitzname meines Schwiegervaters.
Antonio wird seit ewigen Zeiten in seiner Familie nur
Toni Casinista genannt. Das Wort casinista bedeutet im Italienischen gleichzeitig Stimmungskanone und Chaot.
Eigentlich toll! Aber nur, wenn man das im Fernsehen
sieht.
Raffaele, Marco, eine der Marias und Gianluca nebst
beiden Kindern (die nur mitgehen, damit sie den Kauf
von Süßigkeiten günstig für sich beeinflussen können)
fahren zum Supermarkt, um einzukaufen. Antonio be-
ginnt damit, das Haus wohnlicher zu machen, indem
er sämtliche Möbel – so! Und so! Und so! – umstellt.
Ich darf ihm dabei helfen. Sein innenarchitektonisches
Schaffen führt zu vereinzelten Schäden an Sesseln,
Betten und Regalen und offenbart gewaltige Wollmäu-
se und andere Schmutze, die zu beseitigen er bei seiner
Frau in Auftrag gibt. Dann parkt er unsere Autos um.
Alle sollen auf dem kleinen Grundstück Platz haben,
was auch gelingt. Wir werden dann eben nicht im Gar-
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ten sitzen können. Wenn wir nach draußen möchten,
setzen wir uns zu siebzehnt auf den Balkon, nebenei-
nander, weil er ein wenig schmal ist. Was soll’s, dafür
können die Autos nicht auch noch geklaut werden, An-
tonio hat sie mit einer Wäscheleine eingepfercht. Mein
Vorschlag, eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten,
wird unter allgemeinem Kopfschütteln abgelehnt.
Marco erklärt mir, dass das hier erstens nicht unser
Haus sei, die Sache also uns nichts anginge, und man
zweitens nicht auch noch darauf aufmerksam machen
wolle, dass es jetzt noch Gepäck im Haus zu holen gibt.
Am Abend ist das Ungemach längst vergessen. Wir
trinken Rotwein mit Pfirsichen, spielen Karten und du-
cken uns, wenn Onkel Raffaele anfängt zu singen. Er
kann auch «Lili Marleen», jedenfalls die Melodie, die er
mit einem nach Deutsch klingenden Phantasietext 1 ver-sieht und extra für mich immer wieder vorträgt. Die
Frauen – auch meine – quasseln durcheinander und la-
chen auf Kosten der Männer. Ich bin der Einzige, der
hier Bier trinkt, es wurde ja schließlich extra für mich
gekauft. Mit meiner Flasche ziehe ich mich auf den Bal-
kon zurück und sehe in die Sterne. Es fehlt mir an
nichts, obwohl hier fast alles fehlt.
Am nächsten Tag ist es endlich an der Zeit, zum
Strand zu gehen. Wir packen unsere siebenhundert Sa-
1 Es macht Italienern großen Spaß, Deutsch nachzumachen. Das geht ganz einfach: Man muss nur an jedes Wort die Endung «-en»
hängen. Merkwürdigerweise klingt das dann wirklich sehr deutsch.
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chen und marschieren los. Am Meer angekommen, su-
chen wir einen adäquaten Platz, wir brauchen viel da-
von, denn wir haben ein Zelt dabei, damit sich Nonna
und die Tanten umziehen können. Dann eine ganze
Batterie von Klappstühlen und – autsch, merda – was war das denn? Ich wollte gerade einen Sonnenschirm
fachgerecht in den Sand kreiseln lassen und stemmte
mich dafür mit aller Kraft in den Boden, als sich von
dort aus etwas mit nicht geringerer Kraft in meinen
rechten Fuß bohrte. Ich lasse den Schirm fallen und
sehe nach: Ich bin in eine verrostete Schraube von un-
gefähr sieben Zentimeter Länge getreten. Mindestens
zwei davon stecken in meiner Fußsohle. Es blutet ein
wenig, Nonna Anna schreit «Sangue, sangue!» 1 und dann noch «Maria, er blutet!».
Dazu muss man sagen, dass man sich stets große
Sorgen um mich macht, auch wenn ich nur Zeitung
lese oder mir die Zähne putze. Es ist, als befürchte
man ständig, etwas falsch zu machen und zur Strafe
aus der EU ausgeschlossen zu werden. Auch die mer-
dosa 2 Schraube nagt am Selbstwertgefühl meiner Familie.
«Das ist wieder typisch für Italien», schreit Antonio,
dessen Emigrantentum immer auch dazu führt, seine
Heimat zu verfluchen, wenn er dort zu Besuch ist. In
Deutschland hingegen liebt er sein Italien über alles.
Aber egal. Jedenfalls führt er sich auf wie der italieni-
1 Blut
2 beschissene
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sche Ministerpräsident, wenn man ihn der
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