Antonio im Wunderland
erst auf zu schreien, als sie nach fünf-
zehn Minuten hyperventilierte. Immerhin hatte sie sich
als Alarmanlage zur Legende gemacht und erhielt nicht
weniger als drei ernst gemeinte Anfragen von Hausbe-
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sitzern, die zwar gut dotiert waren, aber sie hätte
nachts arbeiten müssen, und das verbot ihre Mutter.
Antonios neuer Clou sind nun die Schaschlikspieß-
chen und das Papier.
«Das, liebe Jung, iste Schatten fur arme Leut.»
«Schatten für arme Leute?»
«Legst di an der Strand und steckste in der Sand,
dann kannst schlafen ohne Sonne in der Augen.»
Soso. «Und was kostet das?»
Antonio lässt seine Goldzähne wild funkeln. Die Gier
springt ihm aus den Augen. «Kostete nur fünf Euro.»
«Fünf Euro für vier Holzspießchen und ein Blatt Pa-
pier? Das kauft doch kein Mensch.»
Niemals gibt dafür jemand Geld aus. Antonio rech-
net mir nun vor, dass wir mit den 200 Schaschlikspie-
ßen 250 Euro Umsatz machen können. Das ist mehr
als mit Schaschlik! Seine Begeisterung kennt keine
Grenzen, und wo er Recht hat, hat er Recht. Außerdem
will er mich am Gewinn beteiligen. Also bastele ich mit
ihm erst einmal zwanzig Sonnendächer aus Papier,
auch wenn ich die ganze Zeit denke, dass man sich ja
auch ein T-Shirt oder ein Buch oder ein Handtuch oder
einfach gar nichts auf den Kopf legen kann, wenn man
am Strand schlafen will.
Ich humple ihm hinterher ans Meer und werde Zeu-
ge, wie er von Badegast zu Badegast geht, sich bückt,
freundlich sein Produkt anbietet, es erklärt, sich zu
Demonstrationszwecken selber flach auf den Boden
legt, das Papier über seine Nase stülpt und mit den
Schaschlikspießen im Sand fixiert. Gut, er muss mit
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dem Preis runter, das war klar. Aber in kurzer Zeit sind
die zwanzig Toni-Dächer, so heißt seine Erfindung,
verkauft. Für immerhin 50 Cent pro Stück. Wir laufen
zurück zum Haus und werfen unter Einspannung der
Enkelkinder eine Massenproduktion vorindustrieller
Art an.
Nach einer Stunde haben wir achtzig Papierson-
nensegel verkauft, überall auf dem Strand sind sie ver-
teilt. Es sieht so stylish aus, wir haben ein must-have
kreiert, das man überall auf der Welt gebrauchen kann.
Und das Tollste ist: Auf der Oberseite ist Platz für
Werbung! Wir werden reich. Antonio rechnet mir die
Margen vor, mir wird schwindlig. Eine Milliarde Segel
pro Saison! Und dann kommt, als sei es ein göttliches
Zeichen, ein Wind auf, eine Böe, wie man sie gern hat
am Meer. Sie fasst beherzt unter achtzig Papiersegel-
chen, rupft sie aus dem Sand und wirbelt sie mitsamt
der Holzspieße nach oben in die Luft. Dort schlingern
sie, taumeln tänzelnd im Wind und fliegen davon, un-
ter sich Menschen, die ihnen hinterherlaufen, als habe
jemand aus einem Hubschrauber Geldscheine abge-
worfen.
Und da ist Antonios Traum auch schon wieder vor-
bei. Na gut, werden wir doch nicht reich. Was gibt’s
heute Abend zu essen?
An unserem letzten Abend geht es mal wieder um
Campobasso. Die Altstadt, die Heimat liegt in Trüm-
mern. Keiner kann sie retten. Antonio hält ein flam-
mendes Plädoyer für den Denkmalschutz und sagt, in
meine Richtung gewandt: «Ich weiß, was zu tun ist. Ihr
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werdet noch sehen, ich habe schon eine Idee.» Der
Umstand, dass er dabei mich anguckt, macht mir Sor-
gen. Ich habe da so eine Vorahnung, nämlich dass er
irgendwas Furchtbares plant und ich ihm dabei helfen
soll. Diese Skepsis wird sich schon bald als begründet
erweisen, aber an diesem Abend rückt er nicht mit sei-
nem Masterplan zur Rettung der Altstadt von Campo-
basso heraus.
Ich habe gerade fünfzehn Euro beim Backgammon
gegen Gianluca verloren, da klingelt das Telefon. Es ist
Lorella, Saras große Schwester. Sie ist mit einem Dip-
lomingenieur namens Jürgen verheiratet. Ich habe ihn
nur einmal gesehen, und er war mir gleich sympathisch,
weil er etwas von Rotwein versteht. Ich finde Weinken-
ner immer automatisch faszinierend, weil sie in dieser
wunderbaren Aromawelt leben und Honig, Sandelholz
und Himbeere schmecken, wo andere einfach sagen:
«Rotwein! Das schmeckt nach … Rotwein eben.»
Sie leben in Südafrika, und Lorella ist schwanger.
Ursula spricht leise mit ihrer älteren Tochter. Aber sie
ist anders als sonst, sie zittert richtig. Als sie auflegt, sind alle still, weil sie bemerkt haben, dass da etwas
Besonderes vor sich geht. Ursula schaut zu uns herüber
und sagt mit einer Sanftheit, die ich gar nicht von die-
ser
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