Antonio im Wunderland
pragmatischen Frau kenne: «Lorella und Jürgen
kommen nach Hause. Sie wollen ihr Baby bei uns be-
kommen.» Sofort sehe ich Antonio an. Er sagt nichts,
aber große runde Tränen laufen über sein unrasiertes
Gesicht. Es ist, als weine ein alter Baum.
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SIEBEN
Auf dem Rückweg von Campobasso nach Hause che-
cken Sara und ich heimlich in einem Wellnesshotel am
Gardasee ein. Dort erholen wir uns von unserer Familie
und kommen entspannt aus den Ferien heim. Jetzt be-
ginnt der Herbst, und der wird bei uns Münchnern vom
nahenden Oktoberfest dominiert. Schon viele Wochen
vorher beginnt der Aufbau der Bierzelte, schon Monate
zuvor kann man Tische reservieren.
Deutsches Bier übt eine unheimliche Faszination auf
Italiener aus, denn Bier gehört nicht unbedingt zu den
herausragenden Spezialitäten ihres Landes. Die Bewoh-
ner Italiens haben in vielerlei Hinsicht aufgetrumpft,
beispielsweise mit der Erfindung sehr langweiligen
Fußballs sowie der euphorischen Begeisterung eben da-
für. Auch Wein aus Italien ist sehr berühmt – da kann
das Bier ruhig schmecken wie feuchter Vogelsand.
Viele Italiener fahren, um richtiges Bier zu trinken,
gern einmal im Jahr nach München zum Oktoberfest,
wo man außer Italienern auch viele Skandinavier und
Australier sieht, deren Bier ebenfalls nicht unbedingt
Weltspitze ist. Australier und Skandinavier sind trink-
fest und deshalb gern gesehene Gäste im Festzelt, was
man von den Italienern nur sehr bedingt sagen kann.
Sie vertragen nicht besonders viel und parken die halbe
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Stadt mit Wohnmobilen voll, denen sie früh entwei-
chen, um auf die Festwiese zu krabbeln, wo sie schon
morgens in den Zelten sitzen. Italiener trinken etwa
drei Stunden an einem Liter Bier und schlafen dann
entweder darüber ein – oder sie tanzen auf den Bän-
ken. Es lässt sich hier eine gewisse Analogie zu der Art
und Weise feststellen, wie Italiener sich im Straßen-
verkehr fortbewegen, nämlich entweder praktisch gar
nicht oder aber in einem für alle beunruhigenden
Tempo.
Die italienischen Gäste des Oktoberfestes trinken
zwar nicht so viel, aber dafür kaufen sie groß ein. Keine
Losbude mit rosa Plüschtieren ist vor ihnen sicher, kein
Lebkuchenherz zu groß und keine Mütze zu albern.
Wenn die Italiener nicht wären, könnte man das Okto-
berfest ein hirnloses Rumgeschubse im Vollrausch
nennen. Mit ihnen jedoch ist es ein hirnloses Rumge-
schubse im Kaufrausch.
Das sind Dinge, die man wissen kann oder zu wissen
glaubt, wenn man selbst auf das Oktoberfest geht. Das
muss man, wenn man in der bayerischen Hauptstadt
lebt. Mindestens einmal im Jahr muss man das, sonst
ist man eine soziale Randgruppe. Auch ich möchte ge-
sellschaftlich nicht abseits stehen und verbringe einen
Abend pro Jahr auf der Wiesn. In den ersten Jahren
meines Lebens in München pestete ich Ureinwohner
gern mit der Frage, ob sie heute Abend mit auf die Wie-
se gingen. Münchner werden sehr böse, wenn man
Wiese sagt und nicht Wiesn. Sie werden überhaupt sehr
böse, wenn man irgendwas falsch ausspricht, dabei
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sprechen sie selber eigentlich alles falsch aus, wenn
man es mal vom Standpunkt eines Hochdeutsch spre-
chenden Menschen aus betrachtet.
Das brünftig Röhrende im bayerischen Idiom ver-
breitet besonders unter Italienern und Japanern Furcht
und Schrecken. So gesehen ist der Oktoberfest-Besuch
vieler tausend Italiener als Abenteuerurlaub zu werten.
Ähnlich wie Hannibal seine Elefanten, schieben die ita-
lienischen Wiesngäste ihre Wohnmobile und Kleinwa-
gen über die Alpen in ein ungewisses Schicksal. Dazu
gehört viel Mut und Geld und eine positive Grund-
stimmung, die den Italienern beim Reisen aber ohne-
hin eigen ist. Keine Gegend der Welt kommt heute oh-
ne Italiener aus, die sich verlaufen oder verfahren, auf
jeden Fall verirrt haben. Immer wieder mal hört man
von erschöpften Kleinwagenbesatzungen, die Mitte
Oktober in der irrigen Annahme, das Oktoberfest fände
im Oktober statt, nach München kommen. Die Enttäu-
schung darüber, dass das Oktoberfest im Wesentlichen
im September abgehalten wird und die Verwunderung
über die geradezu mediterrane Ungenauigkeit des Be-
griffs Oktoberfest hält aber nie lange vor. Italienische
Touristen lassen sich den Urlaubsspaß niemals verder-
ben und suchen stattdessen für mehrere Tage das Hof-
bräuhaus auf, wo sie sich den Platz mit Japanern und
Amerikanern teilen, die ganzjährig dort zu
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