Antonio im Wunderland
haben.
Und da hat er auch wieder Recht. Man schämt sich ja
als Deutscher in luziden Momenten für diese unange-
nehme Attitüde, alles früher besser gefunden zu haben
oder es ganz anders zu wollen, meistens ohne störende
Mitmenschen. Die Wahrheit aus außerdeutscher Sicht
ist: Wir können uns ganz einfach auf nichts einstellen
und mit nichts abfinden. Nicht mit dem vermurksten
Wembley-Tor, nicht mit dem deutschen Essen, nicht
mit den Fernsehgebühren.
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Solche Sorgen hat Marco nicht. Er fügt sich schulter-
zuckend in die Unzulänglichkeiten seiner Heimat und
freut sich dafür umso mehr, wenn er in der Fremde auf
etwas Italienisches stößt. Das ist in München nicht
schwer, denn München nimmt für sich in Anspruch,
die nördlichste Stadt Italiens zu sein, und das stimmt
auch. Man findet überall im Stadtbild die italienische
Fahne, besonders wenn man an italienischen Lokalen
vorbeikommt, und das ist häufig.
Auf der Theresienwiese verlieren wir Furio innerhalb
von etwa einer halben Minute aus den Augen. Uns an
den Händen haltend, suchen wir ihn und entdecken ihn
schließlich bei einer angeregten Unterhaltung mit Stu-
denten aus Turin, die gerade auf dem Heimweg sind.
Sie tragen riesige graue Filzhüte und sind kaum noch
des Italienischen mächtig. Immerhin kennen sie den
Weg zur Quelle ihrer Trunkenheit und gestikulieren
raumgreifend in Richtung eines gigantischen brüllen-
den Plastiklöwen, der auf einem Zelt montiert ist.
In dem Enthusiasmus, mit dem sich meine Begleiter
nun durch die Ströme von verdauenden Leibern zum
Ziel quetschen, sind sie Spermien nicht unähnlich, aber
ich bin höflich genug, dies jetzt nicht zur Sprache zu
bringen. Dafür ist mein Italienisch auch deutlich zu
schlecht. Zwar habe ich in den vergangenen Jahren
schon sehr viel dazugelernt, aber bei mir besteht im-
mer das Risiko, in dieser Sprache böse auszurutschen.
Einmal ging ich in Campobasso zum Arzt, weil mich
der kleine Hund von Tante Maria gebissen hatte. Ich
erklärte Dottor Neri, dass meine polpetta (Fleischklöß-
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chen) heftig schmerzte. Der Doktor sah mich lange an.
Dann bat er mich, ihm die Stelle mal zu zeigen. Ich
schob die Hose hoch und deutete auf mein polpaccio
(Wade), worauf er mir in freundlichem Ton zu verste-
hen gab, dass ich polpettone (wirres Zeug) 1 reden würde.
In einem anderen Fall lobte ich eine Cousine meiner
Frau im Rahmen eines größeren Abendessens mit un-
gefähr vierzehn aufmerksam zuhörenden Familienmit-
gliedern für ihren großen senno (Verstand). Dachte ich jedenfalls. Tatsächlich pries ich ihren großen seno (Busen). Aber jetzt sind wir ja nicht in Italien, sondern auf dem Oktoberfest, und da braucht man kein Italienisch
zu können. Da braucht man nur Geld und Geduld, bis
man es ausgeben darf.
Natürlich ist das Zelt mit dem Plastiklöwen auf dem
Dach geschlossen; und zwar, wie ein Mann mit zittern-
dem Bart unablässig in die Menge ruft, bereits seit
sechs Stunden. Man ließe erst wieder Gäste hinein,
wenn mindestens fünfhundert Menschen das Zelt ver-
lassen hätten, was aber unzweifelhaft nie geschehen
wird. Marco, Furio und Francesco sind untröstlich. Es
gelingt mir, sie davon abzuhalten, es bei allen weiteren
Zelten zu probieren, und biete ihnen an, die Fahrge-
schäfte des Oktoberfestes zu erkunden. Die Jungs sind
einverstanden, denn das Oktoberfest macht viel Lärm,
1 Da wird es dann wirklich kompliziert, denn polpettone heißt auch Hackbraten. Man kann in Italien also sowohl Gehacktes essen als auch reden. Manche Menschen können das sogar gleichzeitig.
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und Lärm ist so etwas wie ein Magnet für meine italie-
nische Familie.
Vor einer recht unspektakulär aussehenden Bude
kündigt ein Mann an, es werde nun darin eine echte
Enthauptung geben. Uiii! Ein Folter-Jokus wird ange-
kündigt, mit Opfern aus dem Publikum. Genau wie in
Abu Ghraib, denke ich, und löse sofort vier Karten. Be-
vor die Enthauptung beginnt, müssen wir allerdings
erst den Tanz eines etwa siebzig Kilo schweren weibli-
chen Schmetterlings über uns ergehen lassen.
Zur Liquidierung eines Festwiesenbesuchers wird
nun ein Freiwilliger gesucht. Wir sitzen ganz vorne,
und selbstverständlich hebt Francesco sofort die Hand.
Er wird auserwählt, was ich problematisch finde. Wie
soll ich bloß seinen Eltern erklären, dass wir auf einem
Volksfest waren und ihr Sohn dort versehentlich, also
bei einem Unfall, von einem bayerischen
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