Antonio im Wunderland
großen Aufkleber, der
mir harte Strafen androht, wenn ich rauche, also lasse
ich es sein. Ich bin zu müde, um mich zu beklagen. Es
würde auch niemand zuhören. Aber ich werde mich be-
stimmt nicht mit dieser spermatischen Pferdedecke
zudecken, ich werde einfach unzugedeckt einschlum-
mern. Gute Nacht! Also lege ich mich aufs Bett und fal-
le in einen nervösen Schlaf.
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TEN
Nachts um vier wache ich in meinen Klamotten auf,
gemütlich eingemummelt in der fiesen Decke. Nach
einem durch Ekel ausgelösten Veitstanz gehe ich ins
Bad und sondiere die Lage. Ja, richtig, bin in New York,
der Stadt, in der niemand schläft. Das kommt wohl
vom Jetlag. Ob Benno und Antonio schlafen? Ich habe
mich nicht mehr richtig um sie gekümmert, seit wir
angekommen sind.
Ich sah sie noch auf dem Flur, wo sie die Tür nicht
aufbekamen. Man muss mit seiner Zimmerkarte vor ei-
nem Magneten herumfuchteln, was Antonio in helle
Aufregung versetzte. Ich wartete, bis sie dann doch in
ihrem Doppelzimmer verschwunden waren, und da-
nach habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Nach den
Kapriolen von gestern wäre es sicher gut, mal nach ih-
nen zu sehen. Auf der anderen Seite sind die zwei zu-
sammen über 120 Jahre alt und bedürfen keiner Auf-
sicht beim Schlafen. Ich beschließe also, meine Sachen
auszupacken und das Fernsehprogramm zu checken.
Dabei fällt auf, dass die Amerikaner genau denselben
Mist anschauen wie wir. Es ist gleichzeitig beruhigend
und empörend, dass das Fernsehen die Menschen über-
all auf der Welt auf dieselbe Weise sediert und verblö-
den lässt.
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Um halb sieben halte ich es nicht mehr aus und rufe
in Antonios Zimmer an. Die haben hier klotzige, ir-
gendwie sehr unschicke Telefone. Er hebt ab, noch be-
vor es richtig getutet hat, offenbar sind Benno und er
schon lange wach – oder sie haben gar nicht geschlafen.
«Was macht ihr?»
«Spielen ein schöne Partie scacchi. »
Schach ist eine der Lieblingsbeschäftigungen meines
Schwiegervaters. Er hat immer so ein winziges Käst-
chen dabei mit kleinen Steckfiguren aus Plastik. Aller-
dings fehlen den schwarzen Figuren ein Turm und ein
Läufer, die er durch abgebrochene Streichhölzer ersetzt
hat. Wenn man nicht genau aufpasst, wechseln Turm
und Läufer dauernd die Funktionen.
«Wie kann dein Turm so ziehen?», fragt man dann.
«Ist gar keine, iste ein Läufe.»
«Eben war der noch ein Turm.»
«War er nie.»
Toni bringt selten eine Runde zu Ende. Das liegt oft
gar nicht an ihm, sondern an seinen Gegnern, zum Bei-
spiel an mir. Es macht einfach keinen großen Spaß,
mit ihm zu spielen, weil er ständig unter lautem Bedau-
ern seine Züge zurücknimmt. Nein, er habe sich vertan,
ruft er dann und stellt schon beim allerersten Zug sei-
nen Bauern immer wieder auf die Ausgangsposition.
So geht das weiter, manchmal bittet er sogar darum,
den vorvorletzten Zug noch einmal zu wiederholen.
Entweder gebe ich dann auf, oder ich biete ihm ein
Remis an, welches er freudig annimmt. Wenn er mit
Benno spielt, so dauert ein Match vermutlich Tage. Aber
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dafür sind wir nicht nach New York gekommen, ver-
mute ich jedenfalls.
«Wann willst du frühstücken?», frage ich ihn. Wir ver-
abreden uns für acht Uhr. Ich werde dann auch erfahren,
was wir hier eigentlich genau wollen. Bin schon sehr ge-
spannt, schließlich gab es ja einige Andeutungen.
Als ich um acht Uhr im Frühstücksraum eintreffe,
sehe ich Benno und Antonio schon von weitem. Letzte-
rer sitzt an einem Tisch und spricht mit dem Kellner.
Antonio fragt ihn, ob er Italiener sei, was der Kellner
freundlich verneint. Und ob er denn Italienisch spre-
che. Auch nicht. Und ob es Espresso gäbe. Ja, das
schon. Aha, dann einen Espresso bitte. Benno steht am
Frühstücksbuffet und lädt sich kleine Würstchen auf
den Teller, so ungefähr dreißig Stück. Ein nahrhaftes,
gesundes Frühstück ist das. Sein Outfit verrät eine ge-
wisse Kennerschaft, was Städtereisen angeht. Er trägt
nagelneue strahlend weiße Turnschuhe, ein rotweiß
kariertes Hemd und darüber eine blaue Windjacke. Um
den Hals hängt ein riesiger Brustbeutel, der schon von
weitem brüllt: «Reiß mich ab, in mir sind nur Wertsa-
chen!» Vielleicht sollte ich ihm vorschlagen, das Ding
gar nicht oder unter der Kleidung zu tragen. Wir wollen
doch das Schicksal nicht herausfordern.
Ich setze mich zu Antonio und lege meine Hand auf
seine. Er gefällt mir heute Morgen. Frisch
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