Anubis 02 - Horus
besiegen, weißt du?« Und dabei wäre es ihm um ein Haar gelungen. Für einen Sterblichen war er geradezu unvorstellbar stark, und …
Bast spürte gerade noch rechtzeitig die Gefahr, die sich unter dem Schutz dieses Gedankens einschleichen wollte, und zog die Hand so hastig zurück, als hätte sie versehentlich eine glühende Herdplatte berührt.
»Und was ist mit meinem Geld?«, fragte Maude hinter ihr.
Bast schwieg geschlagene drei Sekunden – genau die Zeit, in der sie ganz ernsthaft den Gedanken erwog, sie zu töten –, aber dann stand sie auf, drehte sich mit einer erzwungen ruhigen Bewegung zu ihr herum und sagte kühl: »Ich lasse es Ihnen morgen bringen. So lange werden Sie mir doch sicher vertrauen, oder?« Ihr Lächeln wurde noch eine Spur kühler. »Es sei denn, Sie legen Wert darauf, dass ich es Ihnen persönlich bringe.«
Sie war nicht besonders überrascht, dass Maude darauf nicht bestand.
Mittlerweile war der neue Tag schon mehr als eine Stunde alt, aber durch die Ritzen in den geschlossenen Fensterläden des Ten Bells fiel noch immer flackerndes rotes Licht, und man konnte nach wie vor das Klirren von Gläsern und die Stimmen der Zecher hören, für die das Wort Sperrstunde so wenig Bedeutung zu haben schien wie irgendein Begriff aus ihrer seit fünftausend Jahren vergessenen Muttersprache. Der einzige Unterschied zu ihrer Erinnerung von gestern war, dass die Tür jetzt geschlossen war.
Bast klopfte. Natürlich erfolgte keinerlei Reaktion – jedenfalls keine, die auf den ersten Blick sichtbar gewesen wäre –, aber ihre feinen Sinne verrieten ihr trotzdem, dass ihr Klopfen gehört worden war, und dass nun irgendjemand aufmerksam lauschte. Sie konzentrierte sich, erkannte den Rhythmus, auf den der andere wartete, und klopfte erneut: Einmal, Pause, zweimal, Pause, und dann noch einmal.
»Verdammt nochmal, Red, mach die Tür auf«, rief sie. »Bevor ich sie eintrete!«
Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Stimme zu verstellen – das erledigte schon das dicke Holz der Tür für sie –, aber die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Schlurfende Schritte näherten sich der Tür, dann wurde sie unsanft aufgerissen, und ein ziemlich verdutzter rothaariger Bursche sah zu ihr hoch. »Aber was …?«
Bast schob ihn kurzerhand zur Seite und trat gebückt durch die niedrige Tür. Das Ten Bells war nicht annähernd so überfüllt und lärmend wie gestern, für ein Gasthaus, das seit gut drei Stunden geschlossen sein sollte, allerdings sehr gut besucht. Die Luft war so dick, dass man sie buchstäblich schneiden konnte, und nicht nur vom Tabak- und Alkoholgestank erfüllt, sondern auch von demselben, süßlichen Geruch, den sie vorhin in Maudes Lasterhöhle wahrgenommen hatte; wenn auch nicht annähernd so stark.
Nur jeder dritte oder vierte Tisch war besetzt, und wie nicht anders zu erwarten, starrten für zwei oder drei Augenblicke nahezu alle Gäste neugierig in ihre Richtung, und längst nicht bei allen erlosch das Interesse so schnell, wie ihr lieb gewesen wäre. Es hielten sich freilich nur noch gut zwanzig oder dreißig Personen in dem niedrigen Raum auf. Und noch etwas hatte sich verändert; auch wenn diese Veränderung auf den ersten Blick vielleicht nicht sichtbar und eher zu spüren als wirklich zu erkennen war: Die Gäste saßen allein oder in kleinen Gruppen an ihren Tischen, redeten, stritten, lachten oder betranken sich auch stumm und mit grimmiger Entschlossenheit, aber die allgemeine Stimmung war trotzdem angespannt. Bast konzentrierte sich auf zwei oder drei Gesprächsfetzen und registrierte ohne die geringste Überraschung, dass es nur ein einziges Thema zu geben schien: den neuerlichen Mord, der quasi vor ihrer Haustür stattgefunden hatte.
Jemand zupfte an ihrem Mantel, und als Bast sich herumdrehte, sah sie in das Gesicht des rothaarigen Burschen hinab, der sie eingelassen hatte. Er wirkte noch immer genauso verstört und überfahren wie gerade, erkämpfte sich seine Fassung aber nun mit sichtlicher Anstrengung zurück.
»Was?«, machte Bast, ganz bewusst unfreundlich.
Ganz wie sie erwartet hatte, hatte der Rotschopf es plötzlich sehr eilig, ihren Mantel loszulassen und sich ein Stück weit zurückzuziehen. Irgendwie sah er plötzlich noch kleiner und eingeschüchterter aus. Trotzdem brachte er es irgendwie fertig, all seinen Mut zusammenzukratzen und die schmalen Schultern zu straffen. »Verzeihen Sie, Ma’am«, sagte er, »aber wir haben eigentlich geschlossen.
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