Anubis 02 - Horus
anderen war diese Kirche auch die größte Baustelle, die sie seit langer Zeit gesehen hatte.
»Beeindruckend, nicht wahr?«
Bast wirbelte einmal um ihre Achse, das Schwert zum Zuschlagen bereit erhoben.
Aber es gab nichts, wonach sie schlagen konnte. Sie war allein.
»Ja, ja, genau so ist es mir beim ersten Mal auch ergangen«, fuhr Horus’ Stimme fort, amüsiert und anscheinend immer noch direkt in ihrer Nähe. »Es ist verwirrend, aber letztendlich doch nur ein billiger Trick, um kleine Geister zu beeindrucken.«
Endlich gelang es ihr, die Richtung zu bestimmen, aus der die Worte kamen. Sie wandte sich dorthin, presste die Augen zusammen und erkannte eine hochgewachsene, nachtschwarze Gestalt, die auf einer reich mit vergoldeten Schnitzereien verzierten Kanzel nahe am anderen Ende des Kirchenschiffes stand. Trotz der Entfernung war seine Stimme so deutlich und klar zu verstehen, als stünde er unmittelbar vor ihr. Horus hatte recht: Es war ein beeindruckender Trick, um dem Wort Gottes gebührenden Respekt zu verleihen. Aber mehr auch nicht. Sie senkte ihr Schwert und ging los.
»Ich nehme an, mein über alles geliebtes Weib hat dir verraten, wo du mich findest«, fuhr Horus fort. »Ich hätte mir eigentlich denken können, dass sie mich bei der ersten Gelegenheit hintergeht.«
Bast schwieg. Sie war nicht hierhergekommen, um zu reden.
Horus anscheinend schon, denn er fuhr in fast fröhlichem Ton fort: »Ich nehme an, du bist hier, um dich für das zu entschuldigen, was du Sobek angetan hast. Und mir. Nicht, dass das bei mir nötig wäre – du weißt doch, dass ich dir nichts wirklich übelnehmen kann.« Er breitete die Hände aus, wie der Priester, dessen Platz auf der Kanzel er einnahm, um seine Gemeinde zu segnen. Bast beschleunigte ihre Schritte. »Bei Sobek sieht es leider ein wenig anders aus. Du weißt ja, wie er ist … oder genauer gesagt: war. Aber wir haben ja eigentlich immer gewusst, dass es irgendwann ein böses Ende mit ihm nehmen wird.«
»So wie mit dir«, sagte Bast, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, zu schweigen. Im Gegensatz zu Horus musste sie beinahe schreien, um sich verständlich zu machen. Der akustische Trick funktionierte offensichtlich nur in eine Richtung.
Sie begann zu rennen. Horus verschwendete noch eine geschlagene kostbare Sekunde darauf, sie weiter fassungslos anzustarren – hatte er tatsächlich geglaubt, sie wäre hierhergekommen, um mit ihm zu reden, oder sich gar auf seinen grotesken Vorschlag einzulassen? Aber dann reagierte er so schnell und präzise, wie sie es gewohnt war: Ohne auch nur noch einen Sekundenbruchteil zu zögern, flankte er über den goldverzierten Rand der Kanzel, landete nach einem Dreißig-Fuß-Satz nahezu mühelos auf den Füßen und stürmte ihr entgegen, seltsamerweise, ohne seine Waffe zu ziehen. Natürlich konnte er das auch im allerletzten Moment noch tun. Aber wenn er tatsächlich so dumm war, es mit bloßen Händen mit ihr aufnehmen zu wollen, oder gar noch immer nicht verstanden hatte, wie bitterernst sie es meinte … ihr sollte es recht sein.
Bast beschleunigte ihre Schritte noch einmal. Der Schnittpunkt von Längs- und Querhalle war ein riesiger runder Raum, über dem sich eine noch sehr viel gewaltigere Halbkugel spannte – vermutlich die riesige weiße Kuppel, die sie von außen gesehen hatte –, und sie würden ziemlich genau im Zentrum dieses Kreises zusammentreffen, wenn Horus sein Tempo beibehielt. Vermutlich war nicht einmal das Zufall. Horus hatte sich das perfekte Amphitheater für ihren Kampf ausgesucht.
Oder auch nicht. Gerade, als er in den Bereich unter der Kuppel zu stürmen schien, schwenkte er blitzschnell nach links und war plötzlich zwischen den Marmorsäulen und Bögen verschwunden.
Viel wütender auf sich selbst als auf Horus – hatte sie wirklich geglaubt, er würde sich zu einem fairen Kampf stellen? Sie kannte ihn doch nun wirklich gut genug –, erreichte Bast die Stelle, an der er verschwunden war, und stürmte zwischen den beiden mannsdicken Säulen hindurch. Keine Spur von Horus, weder vor ihr noch rechts oder links. Sie sah nur endlose, geschnitzte Reihen von Gebetsstühlen und Bänken, zwischen denen Horus sich zwar verstecken konnte, aber das war nun wirklich nicht seine Art. Er würde jede Möglichkeit ausnutzen, alle Vorteile auf seiner Seite zu haben, aber ein heimtückischer Hinterhalt? Kaum. Horus war schlichtweg zu arrogant, um ihr anders als offen entgegenzutreten. Aber wo war er
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