Anubis 02 - Horus
gewesen, sein Angebot angenommen zu haben – war das gesamte riesige Gebäude taghell erleuchtet, und sie spürte die Anwesenheit zahlreicher Menschen. Aber was hatte sie erwartet? Unter anderem war dieses in Stein gemeißelte Monument des Größenwahns, das sich ihrer Meinung nach durchaus mit der großen Pyramide von Gizeh oder der Tempelanlage von Abu Simbel messen konnte, auch noch ein Gotteshaus, in dem sich die Menschen zusammenfanden, um zu beten und ihrem Gott zu huldigen – und das bedeutete wohl, dass sie sich inmitten zahlreicher Gläubigen wiederfinden würde, sobald sie eintrat. Ein besseres Versteck hätte sich Horus nicht suchen können!
»Und Sie sind ganz sicher, dass ich Sie nicht begleiten soll?«, fragte Abberline.
»So sicher, wie ich bin, dass Sie nicht nach Schottland wollen, Frederick«, antwortete sie.
Abberline zog eine Grimasse. »Also gut, dann tun Sie mir wenigstens einen Gefallen und nehmen Sie das hier mit.« Er griff unter seine Jacke, zog den Revolver hervor und reichte ihn ihr mit dem Griff voran. »Ich weiß, dass er wahrscheinlich nicht viel nutzt – aber nicht viel ist immer noch besser als gar nichts.«
Zögernd nahm Bast die Waffe entgegen und steckte sie ein. Ihrer Meinung nach nutzte der Revolver gar nichts, aber wenn sie ihn an sich nahm, würde Abberline möglicherweise eher darauf verzichten, ihr zu folgen. Nicht einmal er wäre so verrückt, Horus waffenlos gegenüberzutreten.
»Und denken Sie daran, was ich Ihnen über St. Paul’s erzählt habe«, sagte Abberline.
»Wie könnte ich das vergessen?«, seufzte Bast. Tatsächlich hatte Abberline die letzte halbe Stunde nichts anderes getan, als sie mit Informationen über die Kirche voll zu stopfen, die er anscheinend in- und auswendig kannte. Ihr schwirrte der Kopf, und dazu kam, dass ihr vermutlich nichts davon helfen würde. Horus brauchte kein steinernes Labyrinth, um sich zu verstecken.
Sie stieg aus, gab dem Kutscher eine stumme Anweisung, darauf zu achten, dass sein Passagier auf gar keinen Fall ausstieg, und lief mit schnellen Schritten die Stufen der gewaltigen Freitreppe hinauf, die zum nicht minder beeindruckenden Portal der Kirche führte. Ein ganzer Strom von Menschen unterschiedlichster Art kam ihr entgegen, doch niemand nahm Notiz von ihr – was ihr einigermaßen seltsam vorkam, denn sie hatte nicht einmal daran gedacht, in eine andere Gestalt zu schlüpfen oder sich auf andere Weise zu tarnen.
Kurz bevor sie die Tür erreichte, blieb sie stehen und sah sich gleichermaßen irritiert wie beunruhigt um.
Noch immer sah niemand in ihre Richtung, aber nun gewahrte sie auf dem einen oder anderen Gesicht einen Ausdruck, der ihre Beunruhigung noch schürte: eine Mischung aus Verwirrung und vager Furcht. Und ganz plötzlich begriff sie, was sie sah. Kein einziger dieser Menschen verließ das Gotteshaus freiwillig. Etwas hatte sie herausgetrieben, eine gestaltlose Furcht, die in ihre Seelen gekrochen war und es ihnen unmöglich machte, länger an diesem Ort zu verweilen.
Als einer der Letzten verließ ein grauhaariger Mann in schwarzer Priesterrobe die Kathedrale. Dann war niemand mehr da.
»Also gut«, sagte Bast leise. »Du weißt also, dass ich komme.« Sie schüttelte stirnrunzelnd den Kopf, nicht ganz sicher, ob sie abfällig die Lippen verziehen oder aus ihrer Sorge doch lieber etwas anderes machen sollte. Die Bühne für die große Schlussszene war also vorbereitet … aber Horus hatte ja schon immer einen übertriebenen Sinn für Theatralik gehabt.
Sie ließ noch eine weitere Minute verstreichen, bis sie sicher war, dass ihr niemand mehr entgegenkommen würde, dann zog sie ihr Schwert und trat ein.
Schon nach dem ersten Schritt blieb sie wieder stehen. Sie hatte Gewaltiges erwartet, nach dem, was sie von außen gesehen, und allem, was ihr Abberline erzählt hatte, und dennoch erschlug sie der Anblick im allerersten Moment fast. Die Kirche war gigantisch. Sie hatte das Gefühl, sich in einem Gebäude zu befinden, in dem sämtliche Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt worden waren, sodass sein Inneres ungleich größer war als seine äußeren Abmessungen, aber das war längst nicht alles. Was sie schier erschlug, das war die ungeheure Pracht, die sie umgab. Wohin sie auch sah, erblickte sie wertvolle Schnitzereien, vergoldeten Stuck und kostbare Bilder, uralte Skulpturen und sakrale Schätze, deren Wert ihre Vorstellungskraft
schlichtweg sprengte.
Und eine Menge Baugerüste. Neben allem
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