Anubis 02 - Horus
dann?
Bast sah sich immer nervöser um, bis ihr Blick an einer schmalen steinernen Treppe hängen blieb, die am Rand des Kirchenschiffes in die Höhe führte. Als ihr Blick ihr folgte, wurde ihr für einen Moment fast schwindelig.
Sie hatte die Kuppel von außen gesehen und gewusst, dass sie riesig war, aber wenn man darunter stand, wirkte sie gigantisch. Die Treppe führte zu einer Galerie hinauf, die sich um den gesamten Raum zog, und darüber erst begann die eigentliche Kuppel.
Bast kannte weder Schwindel noch Höhenangst, aber bei dem Gedanken, dort hinaufzugehen, war ihr alles andere als wohl.
Dennoch stürmte sie ohne das geringste Zögern los und die steinernen Treppenstufen hinauf. Von Horus war nichts mehr zu sehen. Sie hatte viel zu lange gezögert – aber sie spürte, dass er dort oben war und vermutlich auf sie wartete. Ihr war klar, dass sie sich alles andere als klug verhielt, sehenden Auges in eine Falle zu laufen, aber sie musste sorgsame Planung und geschicktes Taktieren eben ausnahmsweise durch Ungestüm und Wut wettmachen. Sie sah immer noch Cindys Augen vor sich, und den blutigen Schnitt an ihrem Hals. Vielleicht würde sie dieses Bild nie wieder loswerden.
Sie beschleunigte ihre Schritte noch einmal und nahm jetzt immer drei Stufen gleichzeitig. Was sich als weiterer Fehler erwies. Vielleicht hatte noch nie jemand so schnell wie sie in diesem Augenblick diese Treppe überwunden – zumindest nicht in dieser Richtung –, aber selbst sie war außer Atem, als sie oben ankam, und das ganze gewaltige Kirchenschiff drehte sich um sie, sodass sie sich gegen die Wand lehnen musste, um nicht zu stürzen. Hätte Horus sie in diesem Moment angegriffen, wäre es um sie geschehen gewesen.
Horus griff sie nicht an.
Horus war nicht einmal da.
Bast fand sich allein auf der gewaltigsten umlaufenden Galerie, die sie jemals gesehen hatte. Der bemalte steinerne Himmel der Kuppel spannte sich immer noch schier unendlich hoch über ihr, aber auch der Mosaikboden der Kirche lag nicht unbedingt zum Greifen nahe: Bast beugte sich behutsam vor und hielt sich instinktiv an der steinernen Balustrade fest. Hundert Fuß, schätzte sie, wenn nicht mehr. Horus hatte sich wahrlich ein luftiges Versteck ausgesucht.
Und ein ziemlich dummes dazu. Soweit sie es erkennen konnte, gab es nur diese eine Treppe, die nach oben führte, und damit auch nach unten. Der einzige Weg, den es gab, führte weiter hinauf. Was wollte er hier?
»Du kannst dich nicht vor mir verstecken!«, schrie sie, so laut sie konnte. »Du sitzt in der Falle!«
»Es ist absolut nicht nötig zu schreien, Geliebte«, sagte Horus unmittelbar hinter ihr.
Bast fuhr herum – und riss erstaunt Mund und Augen auf. Horus stand nicht hinter ihr, sondern auf der anderen Seite der Galerie, mehr als hundert Fuß entfernt, aber seine Stimme war so klar und verständlich, als wäre er nur eine Armeslänge entfernt.
»Das ist wirklich bewunderungswürdig, nicht wahr?«, fuhr er fast im Plauderton fort – und nachdem er sich eine Weile gebührend über ihren erstaunten Gesichtsausdruck amüsiert hatte. »Man mag es kaum glauben, dass ein so unzivilisiertes Volk zu solchen Meisterleistungen fähig sein soll.«
Bast kramte einen Moment in ihrem Gedächtnis und den Informationen, die Abberline ihr über dieses Gebäude gegeben hatte. Das hier war also die berühmte Whispering Gallery, eine architektonische und akustische Meisterleistung, so gebaut, dass die gebogenen Wände den Schall immer weiter reflektierten, sodass selbst ein geflüstertes Wort überall in dem gesamten steinernen Rund zu hören war. Und er hatte ihr auch noch etwas erzählt …
»Aber ich habe dich nicht hierher gebeten, um mit dir über die Feinheiten des englischen Kirchenbaus zu diskutieren«, fuhr Horus fort. »Ich frage dich noch einmal: Hast du es dir überlegt und kommst mit mir? Es gibt keinen Grund mehr für dich zu bleiben. Ich habe mit Isis gesprochen.«
»Und wenn ich nicht mitkomme?«, fragte Bast. »Was tust du dann? Bringst du weiter Leute um? Nur zu – es ist niemand mehr übrig, dessen Tod mich noch treffen würde.« Sie sprach nur mit Horus, um ihn abzulenken, während ihr Blick verstohlen über die Galerie neben ihm tastete. Es gab eine zweite Treppe, das hatte Abberline ihr erzählt, aber sie befand sich nicht spiegelbildlich gegenüber ihrer Position, wohin sich Horus vorsichtshalber zurückgezogen hatte. Pech für ihn.
»Da wäre ich nicht so sicher«, antwortete
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