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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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beständig größer. Dass er anhalten und auf Mogens warten musste, bis dieser hinter ihm über die Mauer gestiegen war, lag nicht nur daran, dass er der geübtere Kletterer war.
    Auch bei Tageslicht bot der Friedhof einen durch und durch unheimlichen Anblick; auf eine Weise vielleicht sogar noch unheimlicher als bei Nacht. Wo die Nacht die Schatten im gleichen Maße zum Leben erweckte, wie sie die Umrisse der Dinge verschleierte, enthüllte das Tageslicht jede bizarre Einzelheit eines Ortes, der allmählich in der Erde versank. Die meisten Grabsteine standen schräg, wie Masten einer langsam verrottenden Flotte steinerner Galeeren auf einem bizarren megalithischen Schiffsfriedhof, und etliche waren auch zur Gänze umgefallen oder nahezu im Boden versunken. Die Erde fühlte sich auf unangenehme Weise weich an, nicht so morastig, dass er darin zu versinken drohte, sondern auf eine Unbehagen weckende Weise federnd, die einem das Gefühl gab, über ein straff gespanntes Segeltuch zu laufen, das bei der geringsten unbedachten Bewegung zu zerreißen drohte.
    »Da hinten.« Tom deutete zur Mitte des Friedhofes. Mogens nickte, und Tom ging mit schnellen Schritten voraus, auch jetzt wieder so rasch, dass Mogens sich sputen musste, um nicht zu weit zurückzufallen.
    Zur Mitte des Friedhofes hin wurden die Grabsteine allmählich größer, wie Häuser einer mittelalterlichen Stadt, diezum Zentrum hin immer prächtiger wurden, bis sie sich an den Fuß der zentralen Trutzburg schmiegten. Es gab nur ein einzelnes, bescheidenes Mausoleum, das nicht annähernd so prachtvoll war wie das, das Mogens’ Albträume beherrschte. Dennoch stockte er, als er sich dem halbhohen, kantigen Gebilde aus verwittertem Sandstein näherte, das Toms Ziel war. Auch wenn die Ähnlichkeit allenfalls oberflächlich blieb, so war ihm doch, als bewege er sich nunmehr auch körperlich zurück in der Zeit, um sich dem schrecklichsten aller Augenblicke seines Lebens zu nähern.
    Widerwillig setzte er sich wieder in Bewegung – er hatte tatsächlich das Gefühl, einen körperlichen Widerstand überwinden zu müssen, als wäre da etwas, das ihn mit verzweifelter Kraft zurückzuhalten versuchte – und näherte sich dem Mausoleum mit langsamen Schritten, was es ihm ermöglichte, das Gebäude in seiner Gänze in Augenschein zu nehmen.
    Seine erste Einschätzung war nicht ganz fair gewesen. Das Mausoleum war deutlich kleiner als das auf dem Friedhof von Harvard, und Wände und der Eingang waren auch nicht so überreich mit Steinmetzarbeiten verziert, aber der Eindruck der Schäbigkeit rührte dennoch zum allergrößten Teil von den Spuren des Alters und der Verwitterung her, die die Jahrzehnte auf dem graubraunen Sandstein zurückgelassen hatten. Das Gebäude war auch deutlich größer, als er auf den ersten Blick angenommen hatte, doch wie die Grabsteine und -platten ringsum hatte es begonnen, im Boden zu versinken und stand auch ein wenig schräg. Die drei Stufen, die vormals zu der gut sechs Fuß hohen Tür hinaufgeführt hatten, waren nicht nur schief und zu einem Mosaik aus Hunderten von Bruchstücken geborsten, sondern begannen nun auch gute zwei Fuß unter dem Bodenniveau, sodass es Mogens einiges an Mühe kostete, in das Gebäude zu gelangen, ohne sich den Knöchel zu verstauchen oder sich den Kopf am Türsturz anzuschlagen.
    Er zögerte auch unmerklich, es zu tun. Obwohl im hellen Tageslicht daliegend, bot der Eingang doch einen unheimlich düsteren Anblick. Die Dunkelheit auf der anderen Seiteschien absolut, aber sie war es nicht, die Mogens innerlich erschauern ließ. Es war die physikalisch nicht existente Trennlinie zwischen Dunkelheit und Licht, die gedachte Schwelle, auf der das Grauen lebte. Bildete er es sich ein oder versuchte die Dunkelheit tatsächlich, schattige Arme auszubilden, die wie nervendünne, peitschende Tentakel in die Wirklichkeit hinauszugreifen trachteten?
    Mogens schloss die Augen und trat mit einem entschlossenen Schritt hindurch. Nichts geschah. Natürlich geschah nichts.
    Tom war bereits vorausgeeilt und entzündete eine Sturmlaterne, deren gelber Schein mit dem wenigen hereinströmenden Tageslicht wetteiferte. Mogens sah sich schaudernd um. Er wusste nicht, was er erwartet hatte – nichts Konkretes sicherlich, aber irgendetwas eben –, doch der Raum war vollkommen leer. Dennoch jagten Schauer der Furcht in rascher Folge über seinen Rücken. Das hier war seine Vergangenheit, auch wenn die Ähnlichkeit nur vage zu sein

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