Anubis - Roman
neunjähriger Junge, der mit angehört hatte, wie sein Vater starb und auch seine Mutter nicht hatte retten können. Wie konnte er sich das jemals vergeben?
»Später sind sie dann gekommen«, fuhr Tom fort. »Ich hab nichts gesehen. Es gab ein paar Ritzen in den Bodenbrettern, aber ich konnte nichts erkennen, und meine Mutter hatte mich eingeschlossen. Ich hab Schüsse von unten gehört. Ein oder zwei Schüsse und … und diese Schritte, schwere, schlurfende Schritte. Und dann dieses schreckliche Atmen.«
»Du hast sie nicht gesehen?«
»Irgendwie hab ich die Klappe dann doch aufgekriegt. Meine Mutter war nicht mehr da, alles war voller Blut. Und dann hab ich es gesehen. Nur ganz kurz. Es war nur ein Schatten vor dem Nachthimmel, aber es war nicht der Schatten eines Menschen.«
»Und deine Mutter?«, fragte Mogens. Es war eine dumme Frage, durch und durch überflüssig, aber er spürte, wie nahe Tom plötzlich doch daran war, die Beherrschung zu verlieren. Er musste ihn – gleich wie – aus jenem schrecklichen Moment herausreißen, in dem das neunjährige Kind begriffen hatte, dass es nichts anderes tun konnte, als hilflos dabei zuzusehen, wie seine Mutter vor seinen Augen verschleppt wurde. Einen Moment lang schien es, als wäre dieser verzweifelte Versuch zum Scheitern verurteilt, aber dann kroch die Dunkelheit ebenso plötzlich wieder in die Tiefe seiner Augen zurück, wie sie zuvor Besitz davon ergriffen hatte.
»Sie haben sie nie gefunden. Und meinen Vater auch nicht.«
»Und niemand hat dir geglaubt«, sagte Mogens leise. »Du hast es allen erzählt, aber niemand hat dir geglaubt. Man hat dir nicht einmal zugehört, habe ich Recht?«
Tom schüttelte stumm den Kopf. »Sheriff Wilson hat mich für ’ne Weile bei sich wohnen lassen«, antwortete er. »Er hat mir immer wieder dieselben Fragen gestellt. Er wollte unbedingt rausfinden, was wirklich passiert ist. Am Schluss haben sie dann entschieden, dass meine Eltern von wilden Tieren verschleppt worden sind.«
»So ganz falsch hat er damit ja auch gar nicht gelegen«, sagte Mogens.
»Sie sind keine Tiere! «, antwortete Tom zornig. »Ich weiß nicht, was sie sind, aber sie sind keine Tiere!« Seine Stimmebebte, und in seinen Augen erschien ein Ausdruck, der Mogens schaudern ließ. Nicht einmal, weil dieser Hass so intensiv und unstillbar war, sondern weil er ihn überhaupt sah. Ein so junger Mensch sollte nicht so furchtbar hassen, und vielleicht war das das eigentliche Verbrechen, das die Kreaturen aus den Tiefen der Erde ihm angetan hatten: Sie hatten ihn hassen gelehrt, auf eine Art, auf die kein Mensch jemals hassen sollte.
»Später sind dann Leute aus der Stadt gekommen, die noch mal alles untersucht haben. Sie haben auch viele Fragen gestellt.«
»Aber niemand hat dir geglaubt«, wiederholte Mogens leise. Er erschrak, als er sich selbst des bitteren Klangs bewusst wurde, der in seiner Stimme war. Für einen Moment glaubte er sich in seine eigene Vergangenheit zurückversetzt, und der hilflose Schmerz des Jungen wurde zu seinem eigenen. Wie gut er Tom doch verstehen konnte! Der arme Junge konnte es nicht wissen, aber er erzählte in diesen Augenblicken nicht nur seine eigene Geschichte, sondern zugleich auch die seine, Mogens’. Er fragte sich, wie viele Leben die unheimlichen Geschöpfe schon auf diese Weise zerstört hatten. Zum allerersten Mal im Leben wurde er sich der tatsächlichen Bedeutung des Wortes Mitleid bewusst, denn genau das war es, was er in diesem Moment empfand, in einer Intensität, die beinahe an wirklichen körperlichen Schmerz grenzte: zwei Menschen, die das gleiche Leid teilten.
»Sie haben mich mit nach San Francisco genommen«, fuhr Tom fort. »In ein Waisenhaus. Aber ich bin immer wieder weggelaufen. Nach dem dritten oder vierten Mal hat Sheriff Wilson dann entschieden, dass ich hier bleiben darf.«
Mogens sah ihn zweifelnd an. »Aber damals kannst du höchstens neun oder zehn Jahre alt gewesen sein.«
»Alt genug, um für mich selbst zu sorgen«, antwortete Tom in fast trotzigem Ton. »Es gibt immer Arbeit für jemanden, der keine Angst hat, schmutzige Finger zu kriegen.«
Oder den einen oder anderen kleinen Diebstahl zu begehen, fügte Mogens lautlos hinzu. Aber er dachte diesen Gedankenvoller Gutmütigkeit und Wärme, und mit einem solchen Gefühl von Zuneigung, dass es ihn fast selbst überraschte. Mehr noch: Er musste plötzlich an sich halten, um Tom nicht in die Arme zu schließen und tröstend an sich
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