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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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zu pressen. Dass er es nicht tat, lag womöglich weniger daran, dass er Angst hatte, der Junge könne die Geste falsch verstehen, sondern in mindestens ebenso großem Maße daran, dass es bedeutet hätte, zuzugeben, dass er diesen Trost mindestens so nötig brauchte wie Tom.
    Mogens räusperte sich ein paarmal, um den unbehaglichen Moment zu überbrücken. Fast ohne sich der Bewegung selbst bewusst zu sein, trat er zwei Schritte von Tom zurück, um auf diese Weise nicht nur die äußere Distanz zwischen ihnen zu vergrößern.
    »Und darum bewachst du jetzt hier den Friedhof«, vermutete er.
    Tom nickte abgehackt. Sie hatten die ausgefahrene Spur erreicht, die vom Lager wegführte, und sein Blick war starr dorthin gerichtet, wo das schmutzige Grauweiß der Friedhofsmauer durch das Blattwerk hindurchschimmerte wie Bein durch verwesendes Fleisch. »Sheriff Wilson hat mir den alten Posten meines Vaters gegeben. Er sagte, damit ich mir was verdienen kann und weil es sonst niemand machen will. Er weiß es, Professor. Er weiß es so wie alle anderen. Niemand muss einen leeren Friedhof bewachen, auf dem seit zwanzig Jahren keiner mehr beigesetzt wurde. Es ist so, wie Doktor Graves sagt: Sie alle wissen es. Sie wollen es nur nicht wissen. Und sie wollen nicht, dass es ihnen jemand sagt.« Er lachte leise, nur dass es kein wirkliches Lachen war, sondern ein Laut, der sich wie eine Messerklinge aus Eis in Mogens’ Seele bohrte. »Er wartet nur darauf, dass sie mich auch holen.«
    Abermals erschrak Mogens über die Bitterkeit, die in Toms Stimme war. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht gab es einen Grund für all die uralten düsteren Geschichten, die sich um Friedhöfe rankten, nicht nur hier, sondern überall auf der Welt. Möglich, dass die Menschen tief in sich schon immer das Wissen um die Geschöpfe der Nacht getragen hattenund dass es kein Zufall war, dass es nur in Legenden und Schauergeschichten Ausdruck fand. Waren nicht die überzeugendsten Lügen die, die sich mit dem Mantel der Wahrheit tarnten? Mit einem Male wurde ihm klar, wie ungeheuerlich die Aufgabe war, die sich Graves und dieser Junge – und mit ihnen auch er – vorgenommen hatten. Es war kein Zufall, dass die Menschen das Wissen um dieses furchtbare letzte Geheimnis in ihre Legenden und Mythen verbannt hatten. Wie konnten sie erwarten, dass sie etwas als Wahrheit akzeptierten, mit dem Eltern seit tausend Generationen ihre Kinder erschreckten?
    Dennoch sagte er nach einer Weile: »Vielleicht wollte er dir nur einen Gefallen tun.«
    Tom sah ihn fast verächtlich an. »Ja, vielleicht.«
    Er wandte sich mit einem Ruck ab und wollte gehen, doch Mogens hielt ihn auch jetzt wieder zurück, wenn auch diesmal nur mit einer Geste und ohne ihn zu berühren. »Zeigst du es mir?«, fragte er.
    »Was?«
    »Das Grab«, antwortete Mogens. »Das Mausoleum, in dem deine Schwester …«
    Er sprach nicht weiter, aber Tom hatte ihn verstanden und nickte. Allerdings rührte er sich auch nicht von der Stelle. »Sind Sie sicher, dass Sie dorthin wollen, Professor?«, fragte er.
    »Die Frage ist, ob du dir sicher bist, Tom«, antwortete Mogens sanft.
    Seine Taktik ging auf. Er hatte auf den Stolz des Kindes gezielt, das Tom trotz allem immer noch war, und offensichtlich hatte er getroffen. Tom funkelte ihn einen Atemzug lang beinahe zornig an, aber dann drehte er sich mit einem Ruck um und schlug die dünnen Äste mit einer so wütenden Bewegung beiseite, dass Mogens schützend die Hände hochreißen musste, damit sie ihm nicht ins Gesicht peitschten, als er ihm folgte.
    Mogens war im Innersten nicht annähernd so sicher, wie er sich Tom gegenüber gab. Ganz im Gegenteil: Tom hatte ihn gründlicher durchschaut, als er zuzugeben bereit war, alser ihn fragte, ob er wirklich sicher sei, auf den Friedhof gehen zu wollen. Er war nicht sicher. Er hatte panische Angst davor, diesen Friedhof zu betreten. Toms Erzählung hatte auch die Gespenster seiner eigenen Vergangenheit wieder geweckt, und sein Herz schlug mit jedem Schritt schwerer, den er sich der verfallenen Mauer näherte. Und gerade deshalb musste er es jetzt zu Ende bringen, denn Mogens ahnte, dass er vielleicht nie wieder den Mut dazu aufbringen würde, wenn er jetzt kehrtmachte. Es war eine närrische Vorstellung – vielleicht sogar gefährlich –, dass man jeder Furcht Herr werden konnte, wenn man sich nur zwang, ihr ins Auge zu sehen, aber in diesem Fall traf sie zweifellos zu. Dennoch wurde Toms Vorsprung

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