Anubis - Roman
ihren melancholischen Augen und den zerbrechlichen Zügen. Sie trug sogar noch dasselbe dunkelrote Kleid wie in jener schicksalhaften Nacht, und Mogens glaubte einen sachten Brandgeruch wahrzunehmen, und dazu noch etwas anderes, Unangenehmeres, ein leicht fauliges Aroma, so schwach, dass es fast mehr zu erahnen als wirklich zu spüren war.
Ein Teil von ihm reagierte mit schierer Panik auf Janice’ Anblick, aber ein anderer und – zumindest im Moment noch – weitaus stärkerer Teil seines Bewusstseins analysierte das unheimliche Trugbild mit einer Mischung aus rein wissenschaftlichem Interesse und einer Art amüsierter Anerkennung, die der Präzision seiner eigenen Vorstellungskraft galt. Janice trug das rote Kleid, in dem er sie das allerletzte Mal gesehen hatte, so wie sie es in seiner Vorstellung immer trug; die Erinnerung an Janice war so unverrückbar mit der an dieses rote Kleid verbunden, dass er sie stets darin sah, wenn er an ihre gemeinsame Zeit zurückdachte. Auch ihre Frisur war dieselbe, eine gepflegte, zugleich aber ungezügelte rote Mähne, die bis weit über ihre Schultern hinabfiel und selbst dann noch irgendwie renitent wirkte, wenn sie gerade vom Friseur kam. Ihre gesamte Erscheinung strahlte eine Mischung aus Anmut und einer Kraft aus, die in krassem Gegensatz zu ihrer grazilen Gestalt und der weichen Stimme stand. Natürlich war sich Mogens darüber im Klaren, dass dieses Bild von Janice idealisiert war und nicht der Wahrheit entsprach. Dennoch konnte man seinem Unterbewusstsein nicht vorwerfen, dass es fantasielos wäre oder dass die Tatsache, dass es die Janice-Erinnerung stets auf die gleiche Weise kleidete, auf reine Bequemlichkeit zurückzuführen wäre. Es war Janice, aber es war nicht genau die Janice von vor neun Jahren. Das knappe Jahrzehnt, das seit jener furchtbaren Nacht verstrichen war, war nicht spurlos an ihr vorübergegangen; sie war eindeutig älter geworden und auf eine frauliche Art sogar noch schöner, als er sie in Erinnerung hatte.
In seinem Traum versuchte Mogens aufzustehen oder sich wenigstens auf die Ellbogen hochzustemmen, aber er war wie gelähmt. Alles, was er konnte, war, reglos dazuliegen und die Erinnerung anzustarren, die Gestalt angenommen hatte und langsam näher kam. Der Anteil von Furcht in seinen Gedanken wuchs, aber Mogens konnte selbst nicht sagen, was er eigentlich fürchtete. Sicher nicht nur die Erinnerung an jene grässliche Nacht. Der furchtbare Schmerz und das noch ungleich schrecklichere Gefühl der Machtlosigkeit hatten sichunauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt, aber dennoch war annähernd ein Jahrzehnt vergangen, und kein Schmerz, der einen nicht tötete oder buchstäblich um den Verstand brachte, hielt mit unverminderter Kraft so lange an. Er hatte die Szene unzählige Male in seinen Träumen durchlebt, wieder und wieder und immer wieder, sowohl im Schlaf als auch im Wachen, und unzählige Male war er schreiend und schweißgebadet und mit rasendem Herzschlag aufgewacht. O ja, er kannte die Furcht, die die Erinnerung brachte – aber das hier war anders. Was er nun spürte, war nicht die Angst vor der Vergangenheit, sondern eine düstere Vorahnung, das sichere Wissen um etwas, das kommen würde. Bald. Schrecklich. Und unausweichlich.
Die Janice-Erscheinung kam langsam näher, auf eine unheimliche, gleitende Art, bei der man keine Schritte sah und die ihm endgültig klar gemacht hätte, dass er nur träumte, hätte er noch daran gezweifelt. Dennoch explodierte seine Furcht regelrecht, ohne dass er Trost aus dem Wissen ziehen konnte, nur einem Albdruck zu erliegen. Sein Herz hämmerte. Bittere Galle sammelte sich unter seiner Zunge, und er versuchte mit aller Gewalt, die unsichtbaren Fesseln abzustreifen, die ihn gefangen hielten. Es gelang ihm nicht. Seine Furcht wuchs weiter.
Endlich hörte das schreckliche, schrittlose Gleiten der unheimlichen Erscheinung auf, und sie blieb stehen, um ihn aus Janice’ Augen anzustarren, Janice’ Augen in Janice’ Gesicht, die nicht Janice’ Augen waren, so wenig, wie ihr Gesicht ihr Gesicht war. Es war eine Maske, nichts als die perfekte Mimikry einer unheimlichen Kreatur, die sich diese Larve übergestülpt hatte, um sich an ihre ahnungslose Beute heranzuschleichen, bis ihre Fluchtdistanz unterschritten und ein Entkommen unmöglich geworden war.
Die Maske zu erkennen hieß, sie zu durchschauen. Janice’ Gesicht veränderte sich nicht wirklich , aber es schien plötzlich auf eine
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