Anubis - Roman
Westentasche, zog seine Uhr hervor und klappte den Deckel auf. Mogens hatte das sichere Gefühl, dass diese Geste vollkommen überflüssig war. Graves wusste auf die Minute genau, wie spät es war.
Er wandte sich auch nicht an ihn, als er sprach, sondern an Tom. »Ich habe gewonnen, Tom«, sagte er fröhlich. »Du schuldest mir einen Dollar.«
»Gewonnen?«, wiederholte Mogens fragend.
Graves ließ den Deckel seiner kostbaren goldenen Taschenuhr mit einem übertrieben heftigen Geräusch zuklappen, das mehrfach gebrochen und verzerrt von den Wänden widerhallte und dabei zu etwas anderem zu werden schien. »Tom und ich haben gewettet«, sagte er. »Er hat einen Dollar darauf gesetzt, dass du entweder gar nicht oder erst nach Mitternacht kommst. Ich hingegen habe zwanzig Dollar darauf gewettet, dass du spätestens um elf hier bist.« Er wiegte den Kopf. »Es war knapp. Acht Minuten später, und du wärst mich teuer zu stehen gekommen, Mogens.«
»Das hättest du mir sagen sollen, Tom«, sagte Mogens. »Um Doktor Graves zu schädigen, hätte ich selbst die Gesellschaft von Miss Preussler noch für zehn Minuten ertragen.«
»Ich wusste nicht, dass du mich so sehr hasst, Mogens«,seufzte Graves. Er steckte seine Uhr ein. »Es ist schlimm, wenn die Domestiken anfangen, sich zu verbünden.«
»Vor allem, wenn sie Grund dazu haben«, sagte Mogens. Er drehte sich zu Tom um. »Den Dollar kriegst du selbstverständlich von mir zurück, Tom.«
Graves verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und wurde dann übergangslos ernst. »Ich freue mich, dass du doch noch gekommen bist. Um ehrlich zu sein, war ich mir dessen gar nicht so sicher.«
Das war gelogen. Graves hatte nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass er kommen würde. Er hatte es gewusst . Mogens verzichtete allerdings darauf, eine entsprechende Bemerkung zu machen. Stattdessen trat er endgültig in den Raum hinein und sah sich dabei ein zweites Mal und aufmerksamer um.
Wie überall war auch hier das elektrische Licht ausgeschaltet, doch Tom und Graves hatten mindestens ein halbes Dutzend Öl- und Petroleumlampen aufgestellt, die die Tempelkammer mehr als ausreichend beleuchteten, sie zugleich aber in etwas anderes zu verwandeln schienen, von dem Mogens noch nicht zu sagen wusste, ob es ihm gefiel. Das warme Licht schien alle Kanten zu glätten und die Umrisse der Dinge nahezu aufzulösen, sodass aus vertrauten Formen Unvertrautes wurde, die spitzen Zähne der Anubis-Statuen und der schreckliche Horus-Schnabel aber zugleich auch etwas von ihrer Bedrohlichkeit einbüßten.
Darüber hinaus gab es aber auch noch weitere Veränderungen. Die drei sargähnlichen Kisten, die Mogens draußen vermisst hatte, standen nun hier. Die Deckel von zweien waren aufgeklappt, und zwischen ihnen spannte sich ein auf den ersten Blick sinnloses Gewirr aus Seilen, Knoten und mechanischen Umlenkrollen. Mogens’ Blick folgte einem der dickeren Seile. Es führte über eine Art komplizierten Flaschenzug zur Decke hinauf, wo mehrere aus fast daumendicken Seilen geflochtene, weitmaschige Netze aufgehängt waren.
»Ihr wart nicht untätig«, sagte er anerkennend, musste aber zugleich auch ein heftiges Gefühl von Ärger unterdrücken, als er daran dachte, dass Graves Stahlnägel in eine mitfünftausend Jahren alten Fresken geschmückte Decke getrieben hatte.
Großer Gott, der Mann war Wissenschaftler ! Wusste er denn nicht, welchen Schaden er anrichtete?
»Das größere Lob gebührt Tom«, antwortete Graves. »Eigentlich hat er die ganze Arbeit gemacht. Ich habe ihm nur gesagt, was er tun soll.«
»Ja«, murmelte Mogens. »Das habe ich mir gedacht.«
Graves legte für einen Moment den Kopf auf die Seite und sah ihn aus eng zusammengekniffenen Augen an, aber dann zuckte er nur mit den Schultern. »Ich bin auf jeden Fall froh, dass du dich entschieden hast, uns zu helfen … Du willst uns doch helfen, nehme ich an?«
»Nein«, antwortete Mogens grob. »Das will ich nicht. Ich will nicht einmal hier sein.«
»Das kann ich gut verstehen«, behauptete Graves ernst. »Aber glaub mir, du hast dich richtig entschieden. Wenn wir Erfolg haben, dann wirst du in kurzer Zeit nicht nur vollständig rehabilitiert sein, sondern wir wissen auch, was mit Janice und den anderen geschehen ist. Und vielleicht werden sie dann die Letzten gewesen sein, die ein so schreckliches Schicksal erleiden mussten.«
» Wenn wir Erfolg haben«, sagte Mogens mit belegter Stimme. Er starrte die Netze unter der
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