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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Zungenspitze über die Zähne und erwartete den Geschmack von Blut, aber er wurde zu seiner Erleichterung enttäuscht. Sein Unterkiefer summte zwar, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen, aber er schien sich nicht wirklich verletzt zu haben.
    »So schlimm ist nur das erste Stück«, versicherte Tom hastig. Als er keine Antwort bekam – anscheinend legte er Mogens’ beharrliches Schweigen als Vorwurf aus, und das nicht ganz zu Unrecht –, fügte er hastig hinzu: »Wenn wir an den Felsen vorbei sind, wird’s besser.«
    Diesmal folgte Mogens’ Blick seiner Geste nicht. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit, seinen jugendlichen Chauffeur zum ersten Mal seit ihrer Abfahrt aus San Francisco wirklich genau in Augenschein zu nehmen. Mogens’schlechtes Gewissen regte sich, und er gestand sich ein, dass er Tom bisher gar nicht wirklich als Person zur Kenntnis genommen hatte, vielmehr hatte er ihn wie dem Ford zugehörig betrachtet; gleichsam eine lebende Verlängerung der mechanischen Kutsche, die Graves geschickt hatte, um ihn abzuholen. Er tat Tom in Gedanken Abbitte und führte sich vor Augen, wie jung er tatsächlich noch war. Das gewaltige Lenkrad und die schweren Pedale, die herunterzutreten seine ganze Kraft zu erfordern schien, ließen ihn wirklich ein bisschen wie ein Kind aussehen, aber vermutlich war er letzten Endes auch nicht sehr viel mehr. Er war schmächtig und machte einen irgendwie zerbrechlichen Eindruck. Mogens schätzte ihn auf vielleicht siebzehn Jahre. Das schulterlange, leicht gelockte Haar gab ihm zusätzlich etwas Feminin-Verletzliches, das Mogens’ schlechtes Gewissen sich noch stärker rühren ließ, als er an die beiden Koffer dachte, die Tom klaglos vom Bahnsteig getragen und im Kofferraum des Ford verstaut hatte. Sie enthielten seinen gesamten weltlichen Besitz, aber da dieser zum Großteil aus Büchern bestand, waren sie sehr schwer.
    »Wie alt bist du, Tom?«, fragte er geradeheraus.
    Mogens bemerkte, dass die Frage seinen Chauffeur in Verlegenheit brachte. Er antwortete nicht sofort, sondern gewann etliche Sekunden damit, scheinbar konzentriert auf die ausgefahrene Spur zu starren, die sich vor ihnen zwischen Gestrüpp, Felsen und braun vertrocknetem Gras entlangschlängelte. Mogens selbst vermied es tunlichst, in dieselbe Richtung zu blicken. Es war ihm ein Rätsel, wie der Junge sich hier orientierte. Was ihn anging, so gab es diesen Weg gar nicht.
    »Siebzehn«, sagte Tom schließlich. Nach einer guten Sekunde und einem unbehaglichen Einatmen fügte er hinzu: »Ungefähr.«
    »Ungefähr?«
    »Ich weiß nicht genau, wann ich geboren bin«, gestand Tom. »Meine Eltern haben mich – glaube ich – in einem Korb auf die Kirchentreppe gelegt, als ich vielleicht ’n Jahr alt war.Barmherzige Leute haben mich aufgenommen und mein Alter geschätzt.« Er machte ein verlegenes Gesicht, als wäre es seine persönliche Schuld, dass seine Eltern sich nicht um ihn hatten kümmern können oder wollen, und fügte noch hinzu: »So was passiert hier öfter. Sheriff Wilson hat ’n paar Nachforschungen angestellt, aber ohne Erfolg.«
    Im allerersten Moment kam Mogens dies sonderbar vor. Aber dann führte er sich vor Augen, wo er sich befand. Die relative Nähe San Franciscos mit seinen wimmelnden Menschenmassen und den aufstrebenden Industrien und Handelszentren täuschte nur zu leicht darüber hinweg, dass dieser Teil des Landes zu Recht den Beinamen »Wilder Westen« gehabt hatte. Eisenbahnverbindungen, Automobile und Dampfmaschinen allein machten aus den Einwohnern hier nicht ganz automatisch auch zivilisierte Menschen. Zumindest nicht aus allen.
    »Und jetzt arbeitest du für Graves«, stellte er fest.
    »Schon länger«, antwortete Tom, ganz offensichtlich froh, das Thema wechseln zu können. Er schaltete wieder in einen anderen Gang, und das Getriebe unter ihren Füßen gab einen Laut von sich, als versuche es, das dünne Blech zu durchschlagen, um seine malträtierten Zahnräder in ihre Waden zu bohren. Tom lachte. »Ich bin so ’ne Art Mädchen für alles. Ich hack Holz, mach Erledigungen und Botengänge … Was eben so anfällt.«
    »Und dann und wann holst du Besucher vom Bahnhof ab, die nichts Besseres zu tun haben, als dich zu beleidigen«, sagte Mogens.
    Er las in Toms Gesicht, dass er schon wieder einen Fehler gemacht hatte. Offensichtlich hatte der Junge die in diesen Worten verborgene Entschuldigung nicht verstanden. Er sah ihn einen Moment lang irritiert an,

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