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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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gewiss.
    Der Augenblick verging, ehe er auch nur wirklich erschrecken konnte, aber er ließ etwas wie einen neuerlichen, noch schlechteren Geschmack in ihm zurück. Diesmal nicht auf seiner Zunge, sondern auf seiner Seele.
    Mogens verscheuchte den unheimlichen Gedanken, schalt sich im Stillen den Feigling, der er ganz offensichtlich auch war, und beeilte sich nun, auch zu den beiden anderenFenstern zu eilen und sie aufzumachen; wie er sich selbst sogar einigermaßen erfolgreich einredete, weil es hier drinnen finster und die Luft so stickig war, dass man sie kaum noch atmen konnte, in Wahrheit aber wohl viel mehr, weil er Angst vor den Schatten hatte und den Dingen, die darin lebten.
    Zumindest die Luft wurde merklich besser, auch wenn Mogens nun umso deutlicher wahrnahm, wie erbärmlich es hier drinnen stank – nach Graves’ grässlichen Zigaretten, abgestandenem Essen und alten Büchern, aber auch nach noch etwas anderem, das er nicht richtig bezeichnen konnte, obgleich es eindeutig der unangenehmste Geruch von allem war.
    Mit einiger Mühe gelang es ihm, sich auch von diesem Gedanken freizumachen. Er war nicht hierher gekommen, um sich ein Urteil über Graves’ Reinlichkeit oder seine Essgewohnheiten zu bilden. Er musste mit Graves sprechen – und vor allem musste er sich setzen, wollte er nicht Gefahr laufen, dass Graves ihn bewusstlos und zitternd auf dem Fußboden vorfand, wenn er zurückkam. Die kleine Anstrengung, das Zimmer dreimal zu durchqueren und die Fenster zu öffnen, war offensichtlich schon mehr, als er sich im Moment zumuten konnte.

Mogens steuerte auf zitternden Knien die nächste Sitzgelegenheit an, die er entdeckte: den großen Ohrensessel hinter Graves’ Schreibtisch, der zugleich das einzige Möbelstück im Raum war, das auch nur halbwegs bequem aussah. Minutenlang blieb er einfach dahinter sitzen, lauschte mit geschlossenen Augen auf das schwere Schlagen seines Herzens, das sich nur ganz allmählich wieder beruhigte, und genoss das Prickeln und Kribbeln, mit dem das Gefühl bleierner Schwere in seinen Gliedern in eine angenehme Müdigkeit überging. Erst nach einer geraumen Weile und nachdem sich auch das immer noch anhaltende Schwindelgefühl hinter seiner Stirn gelegt hatte, wagte er es wieder, die Lider zu heben.
    Vielleicht hätte er das besser nicht getan. Der Raum war von einem hellen Sonnenlicht erfüllt, wie er es möglicherweise monatelang nicht mehr gesehen hatte, vielleicht überhaupt noch nie, seit Doktor Jonathan Graves hier eingezogen war, und dennoch machte das Licht ihn nicht wirklich hell . Es war wieder genau wie vorhin, als er das Fenster geöffnet hatte, ja, diesmal beinahe noch schlimmer: In jenem zeitlosen Moment, in dem die Dunkelheit hinter seinen Lidern nicht mehr da war, das helle Licht der Nachmittagssonne seine Netzhäute aber auch noch nicht erreicht hatte, hatte er abermals das Gefühl, einen Blick in eine dritte, unheimliche Welt zu werfen, in die Dimensionen der Dämmerung, in der jener im Grunde gar nicht existente, winzige Augenblick für alle Zeiten gefangen war, den es zwischen der Schöpfung und dem absoluten Nichts gegeben haben mochte; samt all den unfertigen, von unvorstellbarem Hass auf alles Lebende und Fühlende beseelten Kreaturen, die darin lebten.
    Auch dieser Moment war zu schnell vorüber, um ihn wirklich zu erschrecken – aber plötzlich empfand er einen tiefen, beinahe schon an Hass grenzenden Groll auf Graves. Dieses Gefühl war nicht neu. Weder sein Zorn noch diese irreale Angst vor der Dunkelheit, die kindische und eines Wissenschaftlers wie ihm durch und durch unwürdige, deswegen aber nicht weniger schlimme Furcht vor der Nacht mit ihren Bewohnern, die ihn so lange heimgesucht und ihm so unendlich viele Albträume und Visionen beschert hatte. Er hatte geglaubt, wenigstens das überwunden zu haben, zumindest diesen Teil des Preises für seinen schrecklichen Verrat an Janice endgültig bezahlt zu haben, aber nun hatte ihm Graves selbst diese kleine Gnade genommen. Die Schuld war nicht bezahlt, sondern war um ein weiteres Leben angewachsen. Die Visionen waren wieder da, und mit ihnen die Furcht. Vielleicht war das die Strafe, die sich das Schicksal für ihn ausgedacht hatte. Vielleicht reichten ihm Einsamkeit und Ausgestoßensein noch nicht, und seine wahre Sühne bestand darin, für den Rest seines Lebens einen Blick in diesem Abgrund zwischen den Welten werfen zu müssen. Vielleicht würde er niewieder einen dunklen Raum betreten

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