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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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geschätzten Kollegen von nebenan gar nicht zu reden! Sie würden alles durchwühlen, auf den Kopf stellen und durcheinander bringen. Ich lasse nicht die Arbeit eines Jahrzehnts kaputtmachen, nur …«
    »… weil ein Mensch ums Leben gekommen ist?«, fiel ihm Mogens ins Wort.
    »Weil du nicht einen einzigen Tag abwarten konntest!«, schnappte Graves wütend. »Was soll das, Mogens? Ich verlange nichts Ungesetzliches von dir! Nicht einmal etwas Unmoralisches! Ein einziger Tag, das ist alles, worum ich dich bitte! Morgen früh kannst du meinetwegen nach San Francisco gehen und dort mit der größten Zeitung sprechen. Posaune es ruhig heraus, ich habe nichts dagegen. Nimm von mir aus den gesamten Ruhm für dich in Anspruch, selbst das ist mir egal! Aber wenn heute irgendjemand erfährt, was wir dort unten gefunden haben, dann war alles umsonst, und das lasse ich nicht zu!«
    »Du hast es immer noch nicht verstanden«, murmelte Mogens erschüttert. »Lässt dich der Tod eines Menschen wirklich so kalt?«
    »Nein!«, antwortete Graves heftig. »Du hast Recht. Aber es war nicht unsere Schuld. Weder deine noch meine. Es war ein furchtbares Unglück, eine Verkettung schrecklicher Zufälle, die niemals hätten passieren dürfen. Aber wenn wir jetzt alles wegwerfen, wofür ich so lange gearbeitet habe – wofür wir beide so lange gearbeitet und wofür wir beide so viel bezahlt haben, Mogens! –, dann war ihr Tod nicht nur furchtbar, sondern auch sinnlos. Willst du das?«
    Mogens fragte sich, warum er sich nicht einfach umdrehte und ging. Es war vollkommen zwecklos, dieses Gespräch fortzusetzen. Graves verstand nicht, wovon er sprach, und er verstand nicht, was Graves meinte. Es war, als hätte sie plötzlich eine babylonische Sprachverwirrung befallen, sodass sie zwar noch die gleiche Sprache benutzten, die Worte aber für den jeweils anderen keinen Sinn mehr ergaben. Es war noch nicht lange her, da hatte er sich ernsthaft gefragt, ob er vielleicht dabei war, den Verstand zu verlieren. Jetzt fragte er sich dasselbe, was Graves betraf. Der Mann war verrückt. Vielleicht sogar gefährlich verrückt.
    »Es tut mir Leid«, sagte er leise, aber mit fester, entschlossener Stimme, »aber ich werde nicht noch einmal dort hinuntergehen. Weder heute, noch morgen, noch sonst irgendwann. Ich packe jetzt meine Sachen und bitte Tom, mich indie Stadt zu fahren. Ich werde Sheriff Wilson von dem unterrichten, was hier geschehen ist.«
    »Ich fürchte, Tom wird keine Zeit haben«, sagte Graves kalt.
    »Dann muss ich eben zu Fuß gehen.«
    Graves lachte gehässig. »In deinem Zustand? Mach dich nicht lächerlich!«
    Mogens zuckte scheinbar unbeteiligt mit den Schultern. »Vielleicht hast du ja Glück und ich breche unterwegs vor Erschöpfung zusammen«, sagte er, aber er lächelte nicht bei diesen Worten, und sein Blick ließ den der schmalen Augen hinter den träge in der Luft schwebenden grauen Rauchschwaden keinen Moment lang los. »Aber ich werde gehen, jetzt. Das hätte ich schon vor langer Zeit tun sollen. Vielleicht wäre die arme Miss Preussler dann noch am Leben.«
    »Vielleicht hättest du gar nicht erst hierher kommen sollen«, fauchte Graves.
    » Du warst es, der mich geholt hat«, erinnerte Mogens.
    Graves verzog verächtlich die Lippen. »Selbst mir unterläuft dann und wann ein Fehler«, sagte er.
    Mogens verzichtete auf eine Antwort. Das Gespräch konnte nur eskalieren, ganz gleich, was er sagte oder tat – und das in jeder Beziehung. Mogens hatte sich, solange er Graves kannte, niemals Gedanken darüber gemacht – wozu auch? –, aber nun fiel ihm mit einem Mal auf, wie überlegen ihm Jonathan Graves auch in rein körperlicher Hinsicht war: Ein gutes Stück größer als er, deutlich breitschultriger und um mindestens dreißig Pfund schwerer, hatte Graves schon während seiner Zeit als Student mehr als nur ein Angebot bekommen, in der Football-Mannschaft der Universität mitzuspielen – etwas, was seiner schulischen Laufbahn ohne Zweifel gut bekommen wäre. Graves, der sich nicht im Mindesten für jedwede Art sportlicher Aktivität interessierte, hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, darauf zu antworten, und die Jahre, die seither vergangen waren, hatten seiner Form sichtlich wenig gut getan. Dennoch war er noch immer deutlichkräftiger als Mogens. Und selbst wenn es anders gewesen wäre: Mit einem Male spürte er die Gewaltbereitschaft, die Graves ausstrahlte, wie einen üblen Geruch. Das war neu, selbst für

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