Anubis - Roman
»Also gut«, seufzte er schließlich. »Wahrscheinlich spielt es jetzt sowieso keine Rolle mehr. Früher oder später hättest du es ohnehin erfahren. Spätestens heute Nacht.«
»Was?«, fragte Mogens.
»Du hast Recht«, sagte Graves. »Dort unten ist tatsächlich noch mehr als nur ein altes Pharaonengrab. Viel mehr, als du dir auch nur vorstellen kannst.«
Mogens konnte sich eine ganze Menge vorstellen, aber er spürte auch, wie zumindest ein Teil von ihm fast begierig nach dem Köder schnappte, den Graves ihm hinwarf. Der Versuch war so durchsichtig, dass er schon fast lächerlich wirkte; der Köder war nicht besonders originell und auchnicht besonders geschickt gewählt. Er konnte die gefährlichen Widerhaken darin deutlich sehen. Und dennoch tat er seine Wirkung. Letztendlich war er mit einem Gutteil seiner Seele immer genau das gewesen, als was Graves ihn gerade bezeichnet hatte: ein Mann der Wissenschaft. Die langen Jahre in seinem selbst gewählten Exil hatten ihn fast vergessen lassen, warum er diesen Beruf gewählt hatte und keinen anderen. Die zahllosen Nächte, in denen er schweißgebadet und von Albträumen geplagt aufgewacht war, und die dafür umso tristeren, sich in einer endlosen Folge nicht enden wollender Stunden aneinanderreihenden Tage in seinem fensterlosen Verlies im Keller der Universität hatten ihn glauben machen, dass das Feuer der Wissenschaft in ihm erloschen war. Aber das stimmte nicht. Ein Teil von ihm hatte niemals aufgehört, diese eine, ultimative Frage zu stellen, auf die letzten Endes jeder Forscherdrang hinausläuft: Warum?
»Nein«, sagte er.
»Nein?«, wiederholte Graves ungläubig. »Aber du weißt doch noch gar nicht, was ich gefunden habe!«
»Und ich will es auch gar nicht wissen«, antwortete Mogens. »Du hast Recht, Jonathan – ich bin ein Mann der Wissenschaft, genau wie du. Aber es gibt einen Unterschied zwischen uns. Ich glaube, dass es Dinge gibt, die wir nicht wissen sollten .«
»Wenn alle so dächten wie du«, antwortete Graves verächtlich, »dann säßen wir heute noch auf Bäumen und würden uns gegenseitig mit Stöcken bewerfen!«
»Ja«, sagte Mogens ruhig, »das ist möglich. Aber Miss Preussler wäre auch vielleicht noch am Leben.«
»Und Janice auch«, sagte Graves.
Das Schlimmste war vielleicht, dass diese Worte ebenso durchsichtig waren wie die zuvor. Mogens erkannte die verletzende Absicht dahinter so deutlich, als hätte Graves ihm seinen Angriff zuvor angekündigt, aber das machte sie kein bisschen weniger schlimm. Er spürte, wie eine Woge aus purem Zorn in ihm emporstieg, und für einen Moment wollte ernichts mehr, als sich einfach auf Graves zu stürzen und ihm die Fäuste ins Gesicht zu schlagen.
Natürlich tat er das nicht. Schon, weil er ebenso deutlich spürte, dass es ganz genau das war, was Graves wollte. Statt ihm noch weiter zuzuhören und sich am Ende möglicherweise doch noch zu einer Dummheit hinreißen zu lassen, drehte er sich abermals herum, streckte wortlos die Hand nach der Türklinke aus – und im selben Moment wurde die Tür von draußen aufgestoßen, und Tom stolperte herein. Er war vollkommen aufgelöst.
»Miss Preussler!«, stammelte er. »Sheriff Wilson!«
»Was ist los?«, raunzte ihn Graves an. Er machte eine herrische Handbewegung. »Tom, reiß dich zusammen! Was ist mit Miss Preussler und dem Sheriff?«
Tom musste zwei- oder dreimal einatmen, bevor er überhaupt imstande war, weiterzusprechen. »Sheriff Wilson ist gekommen«, stieß er dann hervor. »Er hat Miss Preussler gefunden. Sie lebt!«
Noch vor weniger als einer Viertelstunde war Mogens nicht sicher gewesen, ob seine Kraft ausreichte, den schlammigen Platz überhaupt noch einmal zu überqueren. Jetzt, als er dicht hinter Graves und Tom herstürmte, spürte er die Anstrengung kaum. Er fiel ein paar Schritte zurück, erreichte die schäbige Hütte, die Miss Preussler von Doktor Hyams übernommen hatte, aber nur wenige Sekunden nach den beiden anderen, und obwohl sein Herz jagte und seine Lungen bei jedem Atemzug zu zerreißen drohten, hielt er nicht einmal im Laufen inne, sondern schlug nur einen hastigen Bogen um den Wagen des Sheriffs, der neben der offenen Tür stand, und überwand die drei hölzernen Stufen davor mit einem einzigen Satz.
Um ein Haar wäre er gegen Wilson geprallt, der sich unmittelbar hinter der Tür aufgebaut hatte und sie mit seinen breiten Schultern nahezu vollkommen blockierte. Es warauch Wilson, der den Zusammenstoß
Weitere Kostenlose Bücher