Anubis - Roman
Graves, und es erschreckte Mogens. Er fragte sich ganz ernsthaft, ob Graves ihn nicht möglicherweise sogar mit Gewalt zurückhalten würde, wenn er darauf bestand, zu gehen, schrak aber so sehr vor seinem eigenen Gedanken zurück, dass er ihn hastig verscheuchte.
»Ich werde jetzt gehen«, sagte er. »Leb wohl, Jonathan.«
Graves presste die Kiefer so fest aufeinander, dass sich Mogens nicht weiter gewundert hätte, seine Zähne knirschen zu hören, aber er sagte kein Wort, sondern starrte ihn nur weiter beinahe hasserfüllt an, und schließlich drehte sich Mogens mit einem Ruck herum und ging zur Tür.
Als er die Hand nach der Klinke ausstreckte, sagte Graves: »Mogens, bitte!«
Mogens würde nie wieder den Mut aufbringen, Graves so offen die Stirn zu bieten. Er wusste, wenn er jetzt stehen blieb oder sich auch nur zu Graves umdrehte, dann hatte er verloren.
Er blieb stehen, drehte sich zu Graves herum und versuchte, seinem Blick standzuhalten.
»Lass uns reden, Mogens«, bat Graves. »Nur fünf Minuten.«
»Eine«, antwortete Mogens – und das war schon mehr, als er sollte.
»Fünf Minuten«, beharrte Graves. »Und danach lasse ich dich von Tom mit dem Wagen in die Stadt bringen, wenn du es immer noch willst.«
Die einzig überhaupt denkbare Antwort auf diese Frage wäre ein empörtes Nein gewesen. Graves würde dieses Angebot nicht machen, wäre er nicht ziemlich sicher, ihn vielleicht doch noch umstimmen zu können. Vielleicht hatte er sogar gute Argumente, wer weiß? Aber Mogens wollte sich nicht umstimmen lassen. An Miss Preusslers Tod konnte er nichts mehr ändern, und zumindest in einer Hinsicht hatte Graves Recht: Er hätte das Unglück vermutlich nicht einmalverhindern können. In einem anderen Punkt jedoch irrte sich Graves gewaltig. Er verlangte etwas Unmoralisches von ihm, etwas durch und durch Unmoralisches. Es war genau anders herum: Wenn er jetzt nachgab und abwartete – und sei es nur einen Tag! –, dann war Betty Preusslers Tod vollkommen umsonst gewesen. Dann hätte er sie ebenso im Stich gelassen wie damals Janice.
»Du hast ja Recht«, seufzte Graves. »Ich bin ein grober Klotz. Ich hätte das nicht sagen sollen, ich weiß. Es … es hängt nur so unglaublich viel davon ab, Mogens. Nur eine einzige Nacht. Was soll ich tun? Vor dir auf die Knie fallen und dich anflehen?«
»Das würde nichts nutzen«, sagte Mogens ruhig. »Eine halbe Minute ist bereits um.«
Graves stampfte seine noch nicht einmal halb aufgerauchte Zigarette mit solch übertriebener Kraft in den überquellenden Aschenbecher, dass ein Schauer winziger roter Funken auf die Papiere auf seinem Schreibtisch ringsum niederregnete, schüttelte den Kopf und zündete sich absurderweise sofort eine neue an. Seine Hände bewegten sich auf sonderbare, fast unheimliche Art – Mogens konnte nicht beschreiben, was ihn an diesem Anblick so erschreckte, aber die Hände eines Menschen sollten sich einfach nicht so bewegen –, und auch unter seinen Handschuhen zuckte und brodelte es ununterbrochen. Mogens ertappte sich dabei, Graves’ Hände anzustarren, und drehte mit einem hastigen Ruck den Kopf, aber es war zu spät. Graves hatte seinen Blick bemerkt.
»Du hast mich nie gefragt, was eigentlich mit meinen Händen passiert ist, Mogens«, sagte er.
Das stimmte nicht. Mogens hatte ihn gefragt, aber nicht wirklich eine Antwort bekommen. »Ich hoffe doch, nicht dasselbe wie mit meinen«, sagte er – eine Antwort, die ihm ganz spontan einfiel und eigentlich vollkommen unsinnig war, und die ihn trotzdem zutiefst erschreckte.
»Nein«, sagte Graves. Er runzelte die Stirn, paffte an seiner Zigarette und fuhr mit einer fragenden Kopfbewegung auf Mogens’ Hände fort. »Hast du dir die Verbände entfernt?«
»Ja«, antwortete Mogens. »Die Salzsäure, mit der sie imprägniert waren, hat doch ziemlich gebrannt. Zwei Minuten.«
Graves streckte fordernd die Hände aus. »Das war nicht besonders klug. Zeig her.«
Obwohl Mogens eine fast panische Angst davor verspürte, von Graves angefasst zu werden, streckte er ganz automatisch die Hände aus und ließ es zu, dass Graves seine Hände betastete und herumdrehte, wie ein Lehrer, der die schmutzigen Fingernägel eines Schülers begutachtet.
Er hatte sich nicht getäuscht, was Graves’ Hände anging – die Berührung gehörte mit zu dem Unangenehmsten, was er je erlebt hatte. Seine Handschuhe waren einfach nur Handschuhe aus altem Leder, aber darunter bewegte sich etwas; nicht
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