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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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verhinderte, denn er trat im letzten Moment blitzschnell zur Seite und ließ ihn passieren; aber Mogens entging keineswegs der rasche, ebenso abschätzige wie misstrauische Blick, mit dem der Sheriff ihn maß.
    Im Augenblick interessierte ihn das aber nicht im Geringsten. Mit zwei weiteren, weit ausgreifenden Schritten war er fast vollends durch den Raum und prallte dann mit einem keuchenden Laut zurück, als er die Gestalt sah, die auf dem schmalen Feldbett lag. Während des gesamten Wegs hierher hatte er keinen einzigen klaren Gedanken fassen können – und wie auch? –, aber seine Fantasie war nicht müde geworden, ihn mit den schrecklichsten Visionen zu quälen. Schließlich hatte er mit eigenen Augen gesehen, was ihr widerfahren war.
    Nichts von all den Schreckensbildnissen, die er erwartet hatte, traf zu.
    Die Wirklichkeit war tausendmal schlimmer.
    Dabei war sie nicht einmal verletzt; jedenfalls nicht, soweit Mogens das erkennen konnte. Miss Preussler lag lang ausgestreckt auf dem einfachen Feldbett, das sie mit ihrer gewaltigen Leibesfülle zumindest in der Breite eindeutig überforderte, ihre Haare waren zerzaust und schmutzig, und auf ihrem Gesicht, den Armen und den nackten Schultern prangten ein paar frische, offensichtlich gerade erst verschorfte Kratzer und Schrammen. Alles unterhalb ihrer Achseln bis hinab zu den Waden war in eine graue Wolldecke gewickelt, die vermutlich aus Wilsons Automobil stammte. Auch ihre nackten Füße waren zerschrammt und starrten vor Schmutz. Ihre Augen standen weit offen, und sie war ganz offensichtlich auch bei Bewusstsein, aber Mogens wünschte sich fast, es wäre nicht so gewesen. Niemals zuvor hatte er ins Antlitz eines Menschen geblickt, in dessen Züge sich ein Ausdruck solch abgrundtiefen Grauens gegraben hatte.
    »Was … was ist mit ihr passiert?«, flüsterte er.
    Tom, der auf der anderen Seite des Bettes auf die Knie gesunken war und Miss Preusslers linke Hand hielt, sah nur kurzund mit einem Ausdruck zu Mogens auf, der eher wütend als besorgt oder gar mitleidig wirkte, aber Graves sagte: »Sheriff Wilson wird uns das sicher gleich erklären.« Er hatte am Fußende des Bettes Aufstellung genommen und sah etwa so teilnahmsvoll auf Miss Preussler hinab wie ein Angler, der einen besonders mageren Fisch aus dem Wasser gezogen hatte und sich überlegte, ob es sich überhaupt lohnte, ihn auszunehmen, oder ob er ihn besser einfach hier liegen lassen sollte.
    »Ich fürchte, das kann ich nicht«, antwortete Wilson.
    Nicht nur Graves drehte sich langsam zu ihm herum und zog fragend die linke Augenbraue hoch; auch Mogens wandte überrascht den Kopf und sah den Sheriff mit einem Ausdruck leiser Verwirrung an.
    »Was soll das heißen?«, fragte Graves. »Sie können es nicht?«
    Wilson hob mit einer Bewegung die Schulter, von der Mogens nicht sagen konnte, ob sie hilflos wirkte oder von mühsam unterdrücktem Zorn erfüllt. Bevor er antwortete, trat auch er an das Bett heran und blickte lange Sekunden nachdenklich und mit gerunzelter Stirn auf Miss Preussler hinab. »Ich kann Ihnen nicht viel sagen, fürchte ich«, wiederholte er. »Ich hatte im Gegenteil gehofft, dass Sie mir einige Fragen beantworten könnten.«
    »Wir?«, wiederholte Graves. Seine linke Hand pulsierte unter dem schwarzen Leder des Handschuhs ganz leicht. »Aber wie könnten wir?«
    Wilson riss sich vom Anblick der halb bewusstlosen Frau los und wandte sich mit einer betont langsamen Bewegung ganz zu Graves um. »Nun, zum einen«, antwortete er, »weil diese Frau ganz offensichtlich zu Ihnen gehört. Und zum anderen, weil ich sie ganz in der Nähe gefunden habe.«
    »Wo?«, entfuhr es Mogens.
    Die Frage – vielleicht aber auch der ganz eindeutig schuldbewusst klingende Ton, in dem er sie hervorgestoßen hatte – erregte eindeutig Graves’ Missfallen, denn er spießte ihn mit Blicken regelrecht auf. Wilson wandte langsam den Kopf inMogens’ Richtung und sah auch ihn etliche Sekunden lang nachdenklich und durchdringend an, bevor er antwortete.
    »Auf dem alten Friedhof. Gleich vorne, wo er an die Straße stößt. Sie wissen, wo das ist?«
    Mogens begann sich unter seinem Blick zunehmend unwohler zu fühlen. Als er Wilson das erste Mal begegnet war, hatte er geglaubt, es mit einem vermutlich warmherzigen und sehr aufrichtigen, aber nicht allzu hellen Landpolizisten zu tun zu haben, der sein Bestes tat, um seiner Aufgabe gerecht zu werden, aber mehr eben auch nicht. Allein der Blick jedoch, mit dem

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