Anubis - Roman
tiefer im Wasser lag oder der Wasserstand des Kanals selbst fiel. Mogens, der zeit seines Lebens auf dem festen Land geblieben war und keinerlei Erfahrung mit dem Meer hatte, grübelte eine Weile ergebnislos darüber nach – hauptsächlich, um sich zu beschäftigen –, wie weit der Wasserspiegel wohl noch fallen mochte, bis die Ebbe ihren niedrigsten Stand erreicht hatte. Schon als sie losgefahren waren, hatte unter dem Boot allerhöchstens ein halber Meter Wasser gelegen, jetzt konnte es kaum noch eine Handbreit sein, und wie die scharrenden Geräusche bewiesen, unter denen die Barke dann und wann erzitterte, nicht einmal mehr das überall. Zweifellos hatten die Konstrukteure des Kanals diesen Umstand einkalkuliert – aber hatten sie auch die Möglichkeit berücksichtigt, dass das Boot mit dem zusätzlichen Gewicht von vier Menschen belastet wurde?
»Dort vorne ist etwas«, drang Graves’ Stimme in seine Gedanken. Mogens setzte sich gerade auf und sah in die entsprechende Richtung, aber er erkannte nichts anderes als das, was die ganze Zeit über da gewesen war: Dunkelheit. Auch Miss Preussler richtete sich etwas weiter auf und sah ihn fragend an, bekam aber nur ein angedeutetes Achselzucken zur Antwort.
Graves wedelte mit der freien Hand und schwenkte seine Lampe herum. Selbstverständlich stach ihnen der Lichtstrahl dabei in die Augen, sodass er im allerersten Moment nichts als weiße Lichtblitze und dann allmählich verblassende grüne Nachbilder auf den Netzhäuten sah. Er schrieb Graves in Gedanken einen weiteren Minuspunkt gut, sparte sich aber jeden Kommentar und wartete geduldig, bis er wieder richtig sehen konnte.
Im allerersten Moment war er nicht einmal sicher, ob ihm seine Augen nicht nur einen weiteren Streich spielten, denn alles, was er sah, war ein verwaschener grauer Fleck, der ununterbrochen seine Form zu verändern schien und manchmal auch ganz verschwand.
»Und?«, fragte Miss Preussler.
»Wir haben es geschafft«, antwortete Graves aufgeregt.
»Geschafft?«, wiederholte Miss Preussler bitter. »Sie meinen, Thomas hat sein Ziel nicht erreicht?«
»Vermutlich«, antwortete Graves kühl. »Wäre es anders, dann wären wir jetzt nicht mehr am Leben und viele andere Menschen ebenfalls. Wäre Ihnen das lieber?«
»Selbstverständlich nicht«, antwortete Miss Preussler spröde. »Aber ich will diese Rechnung auch nicht machen. Sie gestatten, dass es mir trotzdem um den Jungen Leid tut.«
»Mir auch, Miss Preussler«, antwortete Graves, und es klang sogar durchaus ehrlich. Dann aber machte er eine wegwerfende Handbewegung und sprach in wieder begeistertem Ton weiter: »Verstehen Sie denn nicht? Das da vorne muss der Ausgang sein! Das ist Tageslicht!« Tatsächlich hatte der blassgraue Schimmer eindeutig mehr Ähnlichkeit mit matter Dämmerung statt mit dem grünen Geisterlicht, das die unterirdische Welt ansonsten erfüllte. Trotzdem sah Miss Preussler ihn zweifelnd an. »Tageslicht? Aber das …«
»… würde bedeuten, dass es draußen schon hell geworden ist«, unterbrach Graves sie aufgeregt. »Wir waren wohl länger unterwegs, als ich dachte, welche Rolle spielt das schon? In ein paar Minuten sind wir draußen. Wir haben es geschafft!«
Mogens tat sich schwer damit, sich von Graves’ Begeisterung anstecken zu lassen. Natürlich war er erleichtert, aber er rechnete im Kopf auch nach und kam auf allerhöchstens zwei Stunden, die vergangen sein konnten, seit sie das Tor in der Tempelkammer durchschritten hatten. Auch wenn Zeit die sonderbare Eigenschaft hatte, scheinbar langsamer zu verstreichen, je gefährlicher die Ereignisse waren, so konnte es draußen noch nicht Tag sein.
»Anscheinend gelten unsere Regeln hier nicht mehr in gewohnter Weise«, sagte Graves, als er seinen zweifelnden Blick bemerkte und richtig deutete. »Zerbrich dir später den Kopf darüber, Mogens. Alles, was jetzt zählt, ist, dass wir es geschafft haben.«
Mogens war sich dessen ganz und gar nicht sicher. Der graue Fleck aus verwaschener Helligkeit wurde allmählich größer und auch deutlicher, nun, wo Graves nicht mehr mit seiner Lampe in seine Richtung fuchtelte. Aber irgendetwas stimmte damit nicht.
Wieder tauschten er und Miss Preussler einen raschen Blick, und diesmal war Mogens sicher, in ihren Augen eindeutig mehr als nur Beunruhigung zu erkennen. Und er zweifelte auch plötzlich daran, dass sie das Mädchen nur so fest an sich presste, um ihr das Gefühl von Wärme und Sicherheit zu
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