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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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vermitteln. Vielleicht war diese Geste nicht nur einseitig. Spätestens seit dem zurückliegenden Morgen hatte er endgültig begriffen, wie stark diese Frau war – aber das musste nicht bedeuten, dass sie nicht manchmal auch selbst etwas von dem Schutz und der Stärke brauchte, die sie so überreichlich zu verteilen imstande war.
    Quälend langsam, wie es ihm vorkam, bewegte sich die Barke weiter. Der graue Fleck am Ende des Tunnels kam nur ganz allmählich näher, als würde das Boot immer langsamer, je mehr es sich seinem Ziel näherte. Mogens konnte immer noch nicht sagen, was ihn an dem Anblick so sehr störte, aber das Gefühl wurde nicht schwächer, sondern nahm ganz im Gegenteil noch zu.
    Während er gegen das immer schlimmer werdende Gefühl ankämpfte, dass ihr Tempo im gleichen Maße sank, in dem sie sich der Quelle des grauen Lichts näherten, blickte Mogens seit langer Zeit zum ersten Mal wieder zur Seite. Bisher hatte es dort nicht viel zu sehen gegeben. Graves hatte den Lichtstrahl seines Scheinwerfers fast während der gesamten Reise geradeaus nach vorne gerichtet, um nach plötzlich auftauchenden Steinen oder anderen Hindernissen Ausschau zu halten – es hätte ihnen wenig genutzt, denn sie hatten weder ein Ruder noch irgendeine andere Möglichkeit, um Geschwindigkeit oder Kurs ihres Bootes zu beeinflussen –, nun aber hatte er die Lampe zur Seite gedreht, um den blassen Schein am Ende des Tunnels nicht einfach auszulöschen, sodass Mogens sehen konnte, wie sehr sich ihre Umgebung verändert hatte.
    Hätte er nicht die unterirdische Stadt gesehen und gewusst, wonach er Ausschau halten musste, so wäre er kaum auf die Idee gekommen, sich in irgendetwas anderem als einer natürlich entstandenen Höhle aufzuhalten: Die Zeit hatte die jahrtausendealten Fresken, Hieroglyphen und Bilder ebenso spurlos ausgelöscht, wie sie die Steinmetzarbeiten glatt geschmirgelt und die kunstvollen Linien der Reliefs wieder ausgefüllt hatte. Die ehemals sorgsam polierten Blöcke, aus denen Wände und Decke bestanden, waren von jahrhundertealten Ablagerungen bedeckt, jahrtausendelang von Salz und Nässe zerfressen und über Millennien durch Schimmel, Moder und das geduldigen Nagen mikroskopisch feiner Organismen aufgeweicht und pockennarbig. Hier und da waren ganze Blöcke aus der Decke herausgebrochen und ins Wasser gestürzt, Teile der Wände zusammengesackt oder so deformiert, dass die bloße Tatsache, dass sie noch standen, den Naturgesetzen zu trotzen schien.
    Und es wurde schlimmer, je näher sie der Quelle des grauen Lichts kamen. Während sie sich dem Ende ihrer Reise näherten, war es gleichsam wie eine zweite, umgekehrte Reise durch die Zeit: Nachdem sie das Tor in der Tempelkammer durchschritten hatten, waren sie der Treppe hinabfolgend in eine Jahrtausende zurückliegende, nahezu unversehrte Vergangenheit gelangt. Jetzt schien es, als zögen die Jahrhunderte im selben gleichmäßigen Tempo an ihnen vorüber, in denen die Barke über das Wasser glitt; die unbegreifliche Kraft, die die Stadt unter der Erde vor der Macht der Jahrtausende beschützte, nahm auf dem Weg zum Ende des Tunnels hin immer mehr ab. Selbst Mogens konnte auf dem allerletzten Stück nur noch willkürlich anmutende Formen erkennen, vielleicht – da er wusste, wonach er zu suchen hatte – eine Linie, die eine Spur zu gerade war, um tatsächlich von der Hand der Natur geschaffen worden zu sein, einen Winkel, der eine Winzigkeit zu exakt verlief, eine Rundung, die ein wenig zu präzise erschien. Dennoch wäre kein noch so aufmerksamer Besucher, der zufällig hier heruntergeraten wäre, auch nur auf den Gedanken gekommen, sich in irgendetwas anderem als einer auf natürliche Weise entstandenen Höhle zu befinden. Selbst die Wasseroberfläche war nicht mehr glatt, sondern bildete ein Labyrinth aus Steinen, Felszacken und kleinen Stromschnellen, durch das die Barke wie von Geisterhand bewegt ihren Weg fand, ohne auch nur ein einziges Mal irgendwo anzustoßen.
    Dann hörte er das Scharren. Es gelang Mogens, sich noch drei oder vier Sekunden lang selbst einzureden, dass es nur das Geräusch eines Steines war, über den das Boot schrammte, aber zugleich wusste er auch genau, dass das nicht stimmte. Ebenso genau, wie er wusste, woher der Laut kam.
    Es war der Sarkophag.
    Das Scharren und Kratzen kam aus dem Sarkophag. Es war nicht einmal lauter als vorhin, aber auf eine schwer zu greifende Weise … präsenter, aggressiver  – und diesmal

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