Anubis - Roman
dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Einige Sekunden lang starrte er scheinbar nachdenklich ins Wasser, dann zog er seine Taschenuhr heraus, klappte den Deckel auf und studierte etwas länger und stirnrunzelnd die Stellung der Zeiger. Dann sagte er: »Lassen Sie es gut sein, Miss Preussler.«
Miss Preussler stemmte sich mit nur noch größerer Anstrengung gegen die Stange. »Wieso?«, fragte sie ächzend. »Verstoße ich gerade … gegen irgendeine Gewerkschaftsauflage?«
Graves klappte seine Uhr zu. »Dieser Kanal hat eindeutig eine Verbindung zum offenen Meer«, sagte er.
»Und?«, ächzte Miss Preussler. »Hoffen Sie vielleicht, dass die Küstenwache uns zu Hilfe kommt?«
Graves bückte sich nach seiner Laterne und richtete den Strahl auf das gemauerte Ufer. »Sehen Sie die dunkle Linie zwei Finger breit über dem Wasserspiegel, meine Liebe?«, fragte er. »Der Wasserstand ist gesunken. Draußen muss mittlerweile die Ebbe eingesetzt haben.«
Miss Preussler hörte auf zu staken. »Und?«
»Das heißt, die einsetzende Ebbe zieht uns hinaus«, antwortete Graves.
Miss Preussler blinzelte. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. »Ist das wahr?«, wandte sie sich an Mogens.
»Es ist wahr«, sagte Graves unwillig. »Also hören Sie auf, sich unnötig zu verausgaben, und kümmern Sie sich lieber um das Mädchen. Ich glaube, sie hat ein wenig Zuspruch nötig.«
Miss Preussler funkelte ihn an. Aber sie sagte nichts, sondern zog nur mit einer einzigen ärgerlichen Bewegung die Stange aus dem Wasser, warf sie mit einer übertrieben kraftvollen Bewegung unmittelbar vor Graves’ Füße und ging zu dem Mädchen hin. Graves sah ihr stirnrunzelnd, aber auch mit einem nicht gänzlich unterdrückten spöttischen Glitzern in den Augen zu, hob aber nach einem Moment wieder den Kopf und musterte – nun eindeutig besorgt – die langsam vorübergleitenden Wände. Sie hatten die Höhle längst hinter sich gelassen und fuhren nahezu lautlos durch einen gemauerten Tunnel, dessen Decke sich nur wenige Zentimeter über dem hölzernen Baldachin befand. Er fragte sich, ob dieses sonderbare Boot passend für den Kanal gebaut worden war oder umgekehrt, kam aber zu keiner eindeutigen Antwort. Logik hatte in diesem gemauerten Albtraum nicht mehr viel Bedeutung.
Mogens hob den Blick und suchte die Decke ab. Auch hier gab es überall Bilder, verschlungene Fresken und Reliefarbeiten, aber auch noch andere Dinge, die ihn über die Maßen erschreckten, zugleich aber auf eine morbide Weise faszinierten. Wenn man lange genug hinsah, begannen sich die Bilder scheinbar zu bewegen und zu einem neuen, unheimlicheren Sinn zu gruppieren, und beinahe glaubte er auch so etwas wie ein lautloses Flüstern zu hören, eine geisterhafte Stimme tief unter seinen Gedanken, die verbotene Geschichten aus einer Jahrmillionen zurückliegenden Zeit erzählte.
»Wie lange … brauchen wir bis zur Küste?«, fragte Miss Preussler zögernd.
Graves hob die Schultern. »Auf jeden Fall zu lange«, murmelte er. »Ich weiß es nicht. Wir sind vier oder fünf Meilen von der Küste entfernt, aber ich habe nicht die leiseste Vorstellung, wie schnell dieses Boot ist.« Er sog hörbar die Luft ein. »Ich fürchte allerdings, dass Tom auf jeden Fall schneller sein wird.«
»Das Dynamit«, vermutete Miss Preussler. »Er will irgendetwas damit in die Luft sprengen. Aber wir sind doch viel zu weit entfernt, als dass die Explosion …«
»Tom will nicht irgendetwas in die Luft sprengen, Miss Preussler«, unterbrach sie Graves. »Er ist auf dem Weg zur Pyramide, um sie zu zerstören.«
»Das ist doch lächerlich«, antwortete sie. »Auch wenn ich vielleicht nur eine dumme Frau bin, Doktor Graves, so weiß ich doch, dass nicht einmal die hundertfache Menge an Sprengstoff ausreichen würde, um ein so gewaltiges Bauwerk zu zerstören.«
Graves lächelte traurig. Er wandte sich an Mogens, als er antwortete: »Ich fürchte, er hat vor, das Tor zu sprengen.«
»Die Verbindung zum Sirius?«, entfuhr es Mogens.
»Er hätte es niemals sehen dürfen. Er hätte niemals davon erfahren dürfen. Es ist meine Schuld. Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, ihn hierher mitzunehmen!«
»Und was passiert, wenn es ihm gelingt?«, fragte Miss Preussler. Ihre Stimme zitterte.
»Das weiß ich nicht«, gestand Graves. »Niemand kann sagen, was geschieht, wenn ein so mächtiges Instrument außer Kontrolle gerät. Vielleicht nichts. Aber ich fürchte …« Er sprach nicht weiter,
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