Anubis - Roman
Gerichts wiedergefunden hatte. Graves war es gewesen, der eine Woche später im Zug nach New Orleans gesessen hatte, um die Stelle anzutreten, die eigentlich für ihn vorgesehen gewesen war, und in die Wohnung einzuziehen, die auf Janice und ihn gewartet hatte. Und Mogens hatte in der Folge feststellen müssen, dass es schwarze Listen nicht nur gab, sondern dass sie offensichtlich zu den meistgelesenen Schriften des Landes gehörten.
Nichts von alledem sprach er aus. Er hatte Tom schon deutlich mehr verraten als irgendeinem anderen Menschen auf der Welt vor ihm – tatsächlich hatte er mit niemandem über die Ereignisse jener schrecklichen Nacht gesprochen, seit er Harvard verlassen hatte –, aber er wollte ihn nicht auch noch mit seinen persönlichen Problemen belasten.
Toms Blick machte ihm jedoch klar, dass er das meiste von dem, was Mogens gerade nicht ausgesprochen hatte, wohl ohnehin erraten haben musste; wenn schon nicht im Detail, so doch zumindest dem Sinn nach. Mogens hatte ja auch von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass Graves und er keine Freunde waren. Tom schien auch etwas dazu sagen zu wollen, doch in diesem Moment wurden draußen Stimmen laut, und der Junge stand stirnrunzelnd auf, ging zur Tür und öffnete sie, um hinauszusehen. Auch Mogens versuchte einen Blick nach draußen zu erhaschen, aber Tom hatte die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet und verstellte ihm zusätzlich den Blick.
»Bin gleich zurück, Professor«, sagte er, trat mit einem raschen Schritt vollends hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Mogens sah nur ein rasches Flackern der grau heraufziehenden Dämmerung, bevor sich die Tür wieder schloss, aber immerhin hörte er die Stimmen für diesen Moment deutlicher, sodass er nicht nur eine davon als die von Jonathan Graves identifizieren konnte, sondern auch ihren erregten Tonfall hörte. Anscheinend war dort draußen ein heftiger Streit im Gange. Mogens überraschte dies jedoch ebenso wenig, wie es ihn im Grunde interessierte. Er konnte sich niemanden vorstellen, mit dem Jonathan Graves nicht über kurz oder lang in Streit geriet.
Seine Gedanken waren im Moment jedoch weit mehr mit Tom beschäftigt – und dem zurückliegenden Abend natürlich. Er erinnerte sich nicht, was weiter auf dem Friedhof passiert war, und ebenso wenig konnte er sagen, wie er wieder hierher in seine Blockhütte gekommen war. Tom hatte ihm erzählt, dass er ihn gefunden und hierher zurückgetragen hatte, und wie die Dinge lagen, hatte Mogens keinen Grund,am Wahrheitsgehalt dieser Behauptung zu zweifeln – auch wenn es ihm zugegebenermaßen schwer fiel, sich vorzustellen, dass dieser schmächtige Junge ihn ganz allein über die fünf Fuß hohe Friedhofsmauer gehoben und dann bis hierher getragen haben sollte. Auf der anderen Seite: Warum sollte Tom ihn belügen? Er hatte keinen Grund dazu, und davon abgesehen weigerte sich Mogens einfach, sich Tom als Lügner vorzustellen. Er hatte selten einen Menschen getroffen, zu dem er rascher und vorbehaltloser Vertrauen gefasst hatte als zu diesem sanften, fast femininen Jungen. Auch dass er sich ihm so ganz selbstverständlich anvertraut hatte, machte ihm erstaunlich wenig aus. Als gebildetem Mann war ihm natürlich klar, dass er sich in einer Ausnahmesituation befunden hatte; einer Lage, in der er einfach mit jemandem reden musste, um nicht an dem Entsetzen zu zerbrechen, das die Erinnerungen heraufbeschworen hatten. Wahrscheinlich hätte er sich jedem anvertraut, der bei seinem Erwachen neben seinem Bett gesessen hätte; selbst wenn es Miss Preussler gewesen wäre.
Das Besondere war, dass es ihm bei Tom nichts ausmachte. Nachdem er damals mit Schimpf und Schande aus Harvard davongejagt worden war, hatte er die Geschichte niemandem erzählt, und noch vor Tagesfrist hätte er geschworen, dieses Geheimnis eines Tages mit ins Grab zu nehmen. Dennoch hatte es ihm nichts ausgemacht, Tom von den Ereignissen jener schicksalhaften Nacht erzählt zu haben. Bei jedem anderen wäre ihm diese Entgleisung so peinlich gewesen, dass er unverzüglich abgereist wäre, um nie wieder zurückzukommen. Bei Tom aber war sein Geheimnis in guten Händen, das spürte er einfach. Immerhin hatte ihm der Junge gestern Nacht möglicherweise das Leben gerettet. Wenn er nicht rechtzeitig genug aufgetaucht wäre … Mogens schauderte bei dem bloßen Gedanken, allein und schutzlos der Gnade dieser hundeköpfigen Bestie ausgeliefert zu sein.
Könnte er sich doch wenigstens
Weitere Kostenlose Bücher