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Anubis - Roman

Titel: Anubis - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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getan, hätte er nicht in der Bewegung einen kurzen, fast unabsichtlichen Blick aus den Augenwinkeln auf Graves’ Gesicht aufgefangen. Es war nur ein vager Eindruck; eine rasche Vision aus jenem schmalen Grenzbereich, in dem das wirklich Gesehene nicht mehr ausreichte und von den gespeicherten Informationen aus dem Gedächtnis – oder der Fantasie – ergänzt werden musste; und in diesem Fall wohl ganz eindeutig aus seiner Fantasie . Denn was Mogens in jenem kurzen, irrealen Augenblick sah, das war nicht Graves’ Gesicht, sondern eine albtraumhafte Larve, die nur oberflächliche Ähnlichkeit miteinem menschlichen Antlitz hatte. Durch Graves’ Züge schimmerte etwas Raubtierhaftes, Wildes, das sich normalerweise unter seinen menschlichen Zügen verbarg, nun aber, aus diesem ganz bestimmten Blickwinkel und in diesem ganz bestimmten Moment, durch die Oberfläche des normalerweise Sichtbaren hindurchschimmerte. Vielleicht sah er Graves in diesem Moment zum allerersten Mal so, wie er wirklich war; nicht das, wonach er aussah, sondern das, was er war : Ein reptilienhaftes Ding , das lauerte und schlich und auf seine Gelegenheit wartete, zuzuschlagen.
    Und selbstverständlich war es nicht wirklich Graves, den er sah. Es war das, was er sehen wollte , das Bild von Doktor Jonathan Graves, das er sich in dem zurückliegenden Jahrzehnt zurechtgelegt hatte, die Essenz von mehr als neun Jahren Hass, verletztem Stolz und Selbstzerfleischung. Mogens war sich dieses Umstandes vollkommen bewusst, wie er sich auch darüber im Klaren war, dass er es war, der sich damit ins Unrecht setzte. Dennoch führte diese blitzartige dunkle Vision dazu, dass er Graves nicht antwortete, sondern sich im Gegenteil weit mehr Zeit dabei ließ, sich anzukleiden, als notwendig gewesen wäre. Er kam sich selbst durch und durch albern dabei vor, seiner kindischen Furcht zu erliegen, aber sein Herz klopfte bis zum Hals, als er sich schließlich aufrichtete und umwandte.
    Graves hatte einen Stuhl umgedreht, saß rittlings darauf und hatte die Handgelenke lässig auf der Stuhllehne aufgestützt. Dann und wann nippte er an dem Kaffee, den er sich eingeschenkt hatte, während er Mogens aus seinen kalten, fast ausdruckslosen Augen musterte.
    »Einen Penny für deine Gedanken, Mogens«, sagte er.
    »Lieber nicht«, antwortete Mogens. »Du wolltest mir etwas zeigen?«
    Graves sah ein bisschen verletzt aus. »Wir hatten keinen guten Start, wie?«, sagte er, Mogens’ Frage ignorierend. »Das tut mir Leid. Ich hatte es mir anders vorgestellt nach all der Zeit. Vielleicht zu einfach. Mein Fehler. Es tut mir Leid.«
    »Dir tut etwas Leid?« Mogens zog die linke Augenbraue hoch. »Es fällt mir ein wenig schwer, das zu glauben.«
    »Gib mir eine Chance.«
    »Die gleiche, die du mir gegeben hast?« Mogens suchte vergebens nach einer Antwort auf die Frage, warum er sich überhaupt auf diese Diskussion einließ. Er war fast erstaunt, seine eigene Stimme zu hören, als er fortfuhr: »Warum hast du nichts gesagt, damals? Ein einziges Wort, Jonathan, und …«
    »… nichts hätte sich geändert«, fiel ihm Graves ins Wort. »Sie hätten mir ebenso wenig geglaubt wie dir, Mogens. Wir hätten beide als verrückt gegolten, das wäre der einzige Unterschied gewesen – und wären vielleicht beide ins Gefängnis gegangen.«
    »Und da hast du es vorgezogen, dass ich allein als verrückt gelte«, sagte Mogens bitter.
    Graves trank einen langen Schluck Kaffee, währenddessen er Mogens durchdringend über den Rand der Tasse hinweg ansah. Dann sagte er ganz ruhig: »Ja.«
    Wäre er aufgestanden und hätte Mogens warnungslos ins Gesicht geschlagen, hätte der Schock nicht größer sein können. »Wie bitte?«, krächzte er.
    »Bist du jetzt schockiert?«, fragte Graves. »Ich an deiner Stelle wäre es.«
    Es dauerte einige Sekunden, bis Mogens die wahre Implikation dieses Geständnisses aufging. »Dann … dann hast du es auch gesehen?« Sein Herz jagte. Er hatte Angst vor Graves’ Antwort. Panische Angst.
    Wieder trank Graves einen Schluck Kaffee, bevor er antwortete. Seine gefühllosen Augen musterten Mogens in dieser Zeit, die sich zu einer endlosen Aufeinanderfolge zeitloser Ewigkeiten der Qual dehnte, so kalt, als spüre er seine Pein genau und dehne diesen Moment bewusst lang hinaus, um sich daran zu weiden. Aber dann hob er die Schultern und sagte in sehr leisem, nachdenklichem Ton: »Ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Ich habe etwas gesehen, das stimmt, aber

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