Anubis - Wächter im Totenreich
übersinnlichen Dingen konfrontiert wird, reagiert er sehr emotional oder er hat Angst. Bei dem Kapitän traf sicherlich beides zu. Schroff wandte sich der Mann ab und schaute einen der Offiziere an.
»Sorgen Sie dafür, daß einige starke Männer kommen, um die Barke über Bord zu hieven.«
»Nein, lassen Sie!« Der Professor schüttelte den Kopf. So war der Kapitän nicht zu überzeugen, dafür auf eine andere Art und Weise.
Suko hatte sich in den letzten Minuten zurückgehalten und nur beobachtet. Jetzt griff er ein, und deutete mit dem rechten Zeigefinger zum nachtdunklen Himmel.
»Da seht ihr es!«
Wir alle schauten hoch. Nicht nur der Mond schwebte über dem Schiff. Er hatte einen anderen Gegenstand hinzubekommen, der aus der Perspektive gesehen noch größer als der ansonsten fahl leuchtende Erdtrabant wirkte.
Es war ein Schädel.
Und der gehörte Anubis!
***
Nicht nur die unmittelbar beteiligten und in der Nähe stehenden Passagiere hatten den Ruf vernommen, auch die sich weiter im Hintergrund aufhaltenden.
Es gab keinen, der nicht den Kopf drehte und genau in die Richtung schaute.
Die Fratze stand am Himmel.
Grün leuchtend, gefährlich anzusehen. Ein gewaltiger Schädel, übergroß und Angst verbreitend.
Wir alle fühlten uns plötzlich unwohl, denn wir wurden von Anubis, dem Wächter im Totenreich, beobachtet.
Es rann mir kalt den Rücken hinab. Nicht nur wegen des Bildes, sondern weil ich auch an die zahlreichen Menschen auf dem Schiff dachte, die unter Anubis' Knute geraten konnten.
Selbst der Kapitän hatte seine Sprache verloren. Er stand wie angeleimt und völlig stumm auf dem Fleck hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt, schaute in den nachtdunklen Himmel und war nur auf diesen einen Punkt fixiert.
»Jetzt geht es los!« hauchte der Professor. »Die Geister der Vergangenheit schlagen zurück«
»Das kommt mir auch so vor«, flüsterte ich.
Der Kapitän legte seine Starre ab und drehte sich, so daß er uns ansehen konnte. »Ich möchte von Ihnen eine Erklärung«, verlangte er.
»Und zwar sehr schnell.« Seine Stimme war leiser geworden, sie besaß zudem einen leicht vibrierenden Unterton. Für mich ein Beweis für die Unsicherheit des Mannes, die uns ebenfalls erfaßt hatte.
»Bitte, Professor«, sagte ich.
»Das ist das Gesicht des Totengottes Anubis, das wir da am Himmel sehen«, berichtete er. »Sie als Ägypter müßten eigentlich wissen, wer Anubis ist und was er…«
»Hören Sie mit dem Quatsch auf, das ist Legende!« fuhr der Kapitän Barkley in die Parade.
»Hier wurde eine Legende wahr.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen. Tut mir leid. Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt. Anubis ist eine Sagengestalt. Er kann nicht kommen. Unsere Vorfahren haben ihn angebetet. Da müßte ja auch Osiris erscheinen können oder Re.«
»Re ist der Sonnengott, und die Sonne sehen Sie am Tage«, erklärte der Professor.
Er wurde von dem Schiffsführer angesehen wie ein Irrer. Der Kapitän hatte die Übersicht verloren. Er wußte nicht, was er noch unternehmen sollte, und auch seine Sicherheit verschwand allmählich.
»Anubis war nicht allein«, sagte ich. »Wir müssen noch mit einigen Überraschungen rechnen.«
»Was soll das heißen?«
»Sorgen Sie dafür, daß sich die Passagiere in ihren Kabinen aufhalten. So können Sie der bestimmt auf uns zukommenden Gefahr entgehen.«
Mit dieser Antwort hatte ich bei dem Kapitän einen schwachen Punkt getroffen. »Sie wollen mir Vorschriften machen?« schrie er mich an. »Auf meinem eigenen Schiff?« Seine Haltung wurde drohend. »Wenn Sie sich so stur zeigen, mache ich von meinem Recht Gebrauch und lasse Sie einsperren!«
»Sie sollten sich abregen«, sagte Suko lässig, »denn wir bekommen Besuch.«
»Wer ist es?«
»Schauen Sie!«
Der von Suko angekündigte Besuch war bereits von mehreren Passagieren entdeckt worden.
Die Menschen reagierten unterschiedlich. Einige schrien auf, andere blieben einfach stehen und wurden bleich, so daß sie mir wie erstarrte Salzsäulen vorkamen.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, so konnte ich über die Köpfe der meisten hinwegschauen. Das war nicht mehr nötig, da eine Gasse gebildet wurde.
So konnten die Fremden hindurchgehen.
Es war die Besatzung der Totenbarke!
Ein unheimliches, grauenvolles Erlebnis stand uns allen bevor, denn wir sahen hier Gestalten aus einer fernen Vergangenheit. Diese Wesen hätten eigentlich schon längst tot sein müssen, doch ein kaum erklärbarer Zauber hatte sie
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