Anwaltshure 4
traumdurchzogener Schlaf.
22. Sex oder Liebe
Ich gebe zu, dass ich ein Mensch war, der Überraschungen nicht besonders schätzt. Von meinen Jobs abgesehen, hatte ich gern alle Eventualitäten im Blick und wenn ich nachdachte, wurde mir immer klarer, dass die einzigen Personen in meinem Umfeld, die mir immer wieder unliebsame Überraschungen bescherten, Derek und George waren. Da sich Letzterer immer rarer gemacht hatte, blieb nur noch Derek. Und so kam sein Anruf an jenem späten Nachmittag wie aus heiterem Himmel.
»Ich bin’s«, sagte er knapp.
Ich hörte an dem leicht verschwommenen Unterton in seiner Stimme, dass er nicht mehr ganz nüchtern war. Ich brauchte all meine Kraft, um nicht sofort aufzulegen. Da blieb nicht mehr viel für eine lange Reihe von höflichen Floskeln.
»Emma, ich muss mit dir reden …«
»Um was geht’s?«
Er holte so tief Luft wie ein Tenor vor der großen Schlussarie. »Ich hab nachgedacht. Wir dürfen uns nicht mehr sehen.«
Verblüfft lauschte ich seinen Worten. Wann hatte ich ihn je aufgesucht? Er war doch immer zu mir gekommen. Und auch jetzt musste ihm klar sein, dass er nur seine Überfälle einstellen musste und schon wäre das Thema erledigt.
Aber wie er es sagte, klang es, als hätten wir ein Verhältnis …Da er schon wieder Luft holte, unterließ ich einen Kommentar.
»Laura hat was mitbekommen. Sie hat mich angesprochen, ob ich mich in Schwierigkeiten gebracht hätte.«
»Und was hast du ihr gesagt?«
»Ich habe sie beruhigt.«
»Gut.« Wieso wurde ich bei ihm so schnell einsilbig?
»Laura ist eine wundervolle Frau. Ein herzensguter Mensch. Sie ist immer um mich besorgt.«
Wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass es mir an einem solchen Mitgefühl mangelte?
»Sie hat mich in meiner schwärzesten Zeit gerettet und dafür bin ich ihr unendlich dankbar.«
Wer ihn gerettet hatte, stellte ich an dieser Stelle lieber nicht zur Debatte …
»Weißt du, ich habe einen Riesenfehler gemacht, als ich … nun … als ich das bei Delacro …«
Um diesen »Fehler« hatte ich ihn wahrlich nicht gebeten.
»Ich werde mich nicht mehr bei dir melden. Ich werde das mit Laura nicht gefährden. Sie ist mein größtes Glück. Sie möchte Kinder haben und ich will ihr diesen Wunsch erfüllen.«
Meine Belastbarkeit kam an ihre Grenzen.
»Es ist doch so: Eine Frau wie Laura trifft man nur ein Mal in seinem Leben und das will ich nicht zerstören. Deswegen denke ich, so ist es besser für uns alle. Du wirst sicherlich auch einen solch wunderbaren Menschen treffen, der dich glücklich macht.« In diesem Moment konnte ich nicht mehr. Er hatte einen Tonfall angenommen, der zwischen John Wayne und Beichtvater schwankte. Das war mehr, als ich zu ertragen bereit war. Zorn stieg glühend wie Lava in mir auf. Meine Knie begannen so sehr zu zittern, dass ich mich neben den kleinen Tisch setzen musste, auf dem mein Telefon stand.
Wie konnte er es wagen, das, was zwischen uns gelaufen war, allein mir in die Schuhe zu schieben? Als hätte ich ihm nachgestellt. Und nun spielte er den ehrbaren Ehemann, den es wieder auf den Pfad der Tugend zurückdrängt. Weg von der Schlampe, die ihm den Verstand geraubt hat. Tausend sarkastische Erwiderungen tosten durch meinen Kopf. Ich versuchte, sie zu erhaschen, doch es misslang.
Und da legte ich auf.
Nein! Ich legte nicht auf – ich knallte den Hörer in die Station und hielt ihn dort niedergedrückt, bis meine Knöchel sich weiß färbten.
Als nur wenige Atemzüge später erneut ein Klingeln energisch gegen meinen Widerstand anrannte, zerrte ich das Kabel aus der Steckdose. Dann sprang ich auf und eilte quer durch die Wohnung, um mir mit unsicheren Händen eine Zigarette anzuzünden. Alles in mir war in Aufruhr. Plötzlich wollte ich schreien und weinen und alles gleichzeitig. Ein Schmerz, als habe mir jemand seine Faust in den Magen gerammt, ließ mich zuerst eine Hand gegen meinen Leib drücken, um im nächsten Moment auf die Knie zu sacken. Seine salbungsvollen Worte vergessend, erinnerte ich mich nur noch seiner Ankündigung, mich nie mehr sehen zu wollen. Ich versuchte, mich an seine Worte zu erinnern, doch ich konnte es nicht. Selbst seine Stimme hatte keinen Platz mehr in meinem Gedächtnis.
Wie eine Lawine stürzten meine Gefühle über mir zusammen. Weinend presste ich mein Gesicht in das helle Leder der Couch und wunderte mich dabei selbst, dass ich jene Überheblichkeit schlagartig verloren hatte, die meine Gedanken noch während
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