Apartment 16 - Nevill, A: Apartment 16 - Apartment 16
gelandet. Tatsächlich war es ein Mausoleum, das er einmal mit seinem Kindermädchen gesehen hatte, als er mit ihr den verwahrlosten Bereich des Friedhofs durchquert hatte, wo sein Großvater begraben war. Überall hatten welke Blumen herumgelegen, und auf den Grabsteinen waren die Namen der Verstorbenen kaum noch zu entziffern gewesen. Das alles machte ihm Angst. Er wollte nicht akzeptieren, dass seine Mutter und sein Vater eines Tages starben und in einem Steingrab oder einem Mausoleum endeten. Und dass auch er eines Tages sterben musste. Sein Kindermädchen sagte lächelnd: »Bis dahin ist es doch noch eine lange Zeit, Seth.« Aber die kalte Grabstätte aus Marmor, dieses Mausoleum, in das nur ganz wenig Licht fiel, das geschlossene Eisentor und die vergitterten Fenster machten ihm Angst. Er stellte sich vor, wie man ihn dort hineinstieß. Wie er als Toter dort drinnen bleiben musste. Und dass er dort auf der anderen Seite des Tors stehen und nach seinen Eltern schreien würde, die ihn nicht sehen konnten. Er musste zuschauen, wie sie zwischen den Gräbern davongingen. Er konnte sie ganz deutlich sehen, bis sie in den weißen Allegro einstiegen und davonfuhren, während er allein hinter dem Eisentor zurückblieb und hysterisch weinte.
Er schüttelte sich. Sogar heute noch erinnerte er sich nicht gern an diesen Traum. Als Kind hatte er, wenn er an diese Kammer dachte, einen solchen Druck auf der Brust gespürt, dass er kaum atmen konnte.
Er sollte seine Mutter anrufen. Seinen Vater. Seine Schwester. Nach dem Traum drängte es ihn dazu. Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal mit ihnen gesprochen hatte. Er hatte alles schleifen lassen.
Seth seufzte und warf einen Blick auf das Dienstbuch, um an etwas anderes zu denken. Nur zwanzig der vierzig Apartments waren bewohnt. Daran hatte sich nichts geändert seit seinen vier Nachtschichten in der letzten Woche.
Die meisten Penthouse-Suiten waren Feriendomizile von absurd reichen Leuten oder Firmenwohnungen für Angestellte, die in der Stadt zu tun hatten. Obwohl manche Mieter etwas schwierig waren, gab es nachts relativ wenig Ärger. Heute allerdings bemerkte er einen Eintrag, dass in das Apartment Nummer neununddreißig im Ostflügel jemand eingezogen war. Die alte Frau namens Lillian war gestorben. In einem Taxi oder so ähnlich. Das war vor ein paar Monaten gewesen. Stephen hatte ihm am Tag danach davon erzählt, aber Seth hatte die Frau sowieso nie zu Gesicht bekommen. Nachts war sie nie aus ihrer Wohnung gekommen. Die neue Bewohnerin hieß Apryl Beckford. Er fragte sich, wie sie wohl aussah.
Nachdem er den letzten Schluck Tee getrunken hatte, ging er in den hübsch dekorierten Innenhof, der an dem Punkt lag, wo die beiden Gebäudeteile zusammentrafen. Er drehte sich eine dünne Zigarette und rauchte, während er dem Plätschern des Springbrunnens zuhörte. Die Erinnerung an den Traum verblich langsam, und er fühlte sich beinahe erleichtert, dass er wieder an seinem Arbeitsplatz war. Es gab nur wenige Routinearbeiten zu erledigen, nur die regelmäßigen Kontrollgänge und die Eintragungen ins Gästebuch, wenn jemand kam oder ging. Das alles war weitaus weniger demoralisierend als sein Leben in dem Zimmer über dem Green Man und außerdem auch bequemer. Einmal, noch bevor er hier angefangen hatte, war das Barrington House in der Zeitschrift Hello! vorgestellt worden, wegen eines Fußballstars, der damals dort gewohnt hatte. Seine Arbeit war ideal für einen Künstler, so hatte er es sich einmal vorgestellt, aber er hatte zu zeichnen aufgehört, kaum dass er seinen Platz in dem Ledersessel hinter dem Rezeptionspult eingenommen hatte. Er hatte den Verdacht, er sei hierhergekommen, um sich zu vergessen und von den anderen vergessen zu werden, um sich auf möglichst bequeme Art aus dem normalen Alltagsleben auszuklinken. Falls es sich so verhielt, fand er es inzwischen nicht weiter beunruhigend.
Die aufgerauchte Zigarette landete im Springbrunnen, und er kehrte zu seinem Sessel zurück, setzte sich hin und gähnte ausgiebig. Wieder eine schlaflose Nacht. Arabische Teenager fuhren in teuren Autos um den Lowndes Square herum. Er sah auf seine Uhr. Bis zum Ende seiner Schicht am nächsten Morgen waren es noch zehn Stunden, erst dann konnte er sich richtig ausruhen. Hoffentlich würde es ein traumloser Schlaf werden.
Er ging gerade das Fernsehprogramm im Evening Standard durch, als das Haustelefon klingelte. Auf dem Armaturenbrett leuchtete das
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