Apfeldiebe
den Neuen verfolgt, beobachtet, wie der unter dem Funkmast irgendwelche Zettel verbrannte. Einmal hatte er auch eine Blume dort zurückgelassen. Als Rufus schließlich hinunter ins Dorf gegangen war und Kasi sein Versteck verlassen und die Blume im Schnee liegen gesehen hatte, war er sich wie ein Eindringling vorgekommen, als sei er an einem nicht für ihn bestimmten Ort. Die Blume lag unter dem Mast, der Stiel im Schnee vergraben, sodass sie der Wind nicht davonwehen konnte.
Kasi hatte sich am Abend darauf entschuldigt, nicht bei Rufus, nein, er wählte den Umweg über Gott. Gott hörte zu, Gott beschützte, liebte und verzieh. Und Gott sah einem nicht während eines Geständnisses direkt in die Augen. Er mochte enttäuschte Augen überhaupt nicht. Vielleicht würde Rufus nun sein Freund werden.
» Kasimir, du Brillenschlange, vor dir ist es uns nicht bange«, sang Max vor sich hin. Er wiederholte die Zeile drei-, viermal und fand schließlich auch eine Fortsetzung: »Bist ein Mädchen klitzeklein, deine Brille schlag ich ein. Kasi, Kasi, Kasimir …«
Dieser Name! Manchmal überlegte Kasi, ob sein Leben mit einem anderen Namen wohl anders verlaufen wäre. Kein Lars, kein André wurde wegen seines Namens schon im Kindergarten aufgezogen und geärgert, ein Kasimir schon. Eigentlich sprach doch alles dafür, dass Eltern ein Kind gar nicht haben wollten, es vielleicht sogar hassten, wenn sie ihm einen solchen Namen gaben. Er aber wusste, dass Mutter und Vater ihn liebten, mehr als alles andere auf der Welt, und er liebte sie mehr als alles andere auf dieser Welt. Das klang zwar irgendwie hochtrabend und übertrieben, in seinem Fall aber stimmte es. Warum aber dann dieser Name?! Vielleicht wäre Rufus längst sein Freund, wenn er Leon hieße, obwohl Rufus auch nicht gerade wie das Gelbe vom Ei klang. Aus Kasimir konnte man dafür immerhin noch eine einigermaßen erträgliche Koseform basteln: Kasi, Rufi hingegen klang so richtig schräg. Aber schlussendlich eben immer noch besser als Kasimir !
Seine Eltern liebten ihn, das stand fest. Die Sonne ging auf und Mutter liebte ihn. Er kam aus der Schule – Vater liebte ihn und er ging ins Bett und seine Eltern liebten ihn noch immer. In anderen Familien sah das anders aus, soviel bekam er bei seinen seltenen Kontakten zu den Kindern im Dorf mit. Rufus lebte allein mit seinem Vater, wo sich seine Mutter befand erzählte er keinem. Kasi tippte auf tot , warum sonst die schwarze Kleidung und die schwarz gefärbten Haare? Timi liebte Max wahrscheinlich mehr, als der von seinen Eltern geliebt wurde. Für diese Vermutung existierten zwar keine richtigen Beweise, aber Kasi hatte schon öfter beobachtet, dass Max ganz schnell verschwand, wenn sein Stiefvater irgendwo auftauchte und dabei darauf achtete, dass Timi immer in seiner Nähe blieb. Warum? Kasi wusste es nicht, vermutete aber, dass die Gründe denen von Alex recht ähnlich sein mussten. Gründe, die in regelmäßigen Abständen dafür sorgten, dass Alex einen Tag eingesperrt im Keller hockte oder, während alle anderen Kinder im Freibad tollten, in der prallen Sonne den kompletten Nachmittag auf den Knien durch den riesigen Garten rutschen und Unkraut jäten musste. Alle wussten, dass dies an seinem Vater lag.
» Seid ihr noch da? Max?« Timis Stimme, eindeutig. Ziemlich weit weg zwar, aber trotzdem Timi.
» Halt die Klappe, Kleiner. Ich bin hier unten, musst also keine Angst haben.« Summen.
» Ist die halbe Stunde nicht bald rum?«
Max’ Lachen. »Zehn Minuten erst.«
» Habt ihr sie schon gefangen?« Kasi vermutete, dass Max jetzt die Augen verdrehte und den Kopf schüttelte.
» Nein, Kleiner. Aber bald.«
» Könnt ihr jetzt endlich mal die Klappen halten?!« Alex. Offensichtlich noch im Nebenraum.
» Hast du was?«, fragte Max, erhielt aber nur ein knappes Nein zur Antwort. Dann Ruhe.
Auf dem Boden des Kessels hatten sich im Verlauf der Jahrhunderte, die er nun schon unbenutzt und unbewegt an dieser Stelle hier stand, Staub und, was dem in ihm liegenden Jungen ganz langsam ins Bewusstsein rückte, kleine, von der Decke gefallene Mörtelstücke und Steinchen angesammelt. Die dicke Staubschicht hatte diese größeren Teilchen, als Kasi sich darauf legte, abgepolstert, vielleicht hatte er in den ersten Minuten in seinem Versteck auch anderes im Kopf gehabt als eine Steinerbse unter den darüber liegenden sieben Matratzen aus Staub. Je länger er aber unbeweglich so zusammengekrümmt auf der Seite liegen
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