Apollofalter
erwachsenen Frauen hin und her. Auf den ersten Blick war ihnen nicht anzusehen, dass sie Schwestern waren. Ein bisschen machten sie auf ihn den Eindruck wie Stadtmaus und Feldmaus aus dem flimmernden Schwarzweiß-Film, der ihnen früher als Schüler regelmäßig zu Ferienbeginn gezeigt wurde. Irmchen war rund und füllig wie die Feldmaus. Sie trug das gleiche sackartige braune Kleid wie am Mittag. Ihre Hände waren breit, die Fingernägel kurz geschnitten und nicht lackiert. Sie trug weder einen Ring noch sonstigen Schmuck. Ihr rundes Gesicht war bis auf das Feuermal, auf das sie eine braune Paste aufgetragen hatte, ungeschminkt. Auf ihr Äußeres schien sie nicht viel Sorgfalt zu verwenden.
Daneben Marion, die Stadtmaus. Alles an ihr wirkte gepflegt, angefangen von den hellbraun glänzenden Haaren, die sie immer wieder mit einer koketten Geste hinters Ohr strich, über das sorgfältige Make-up bis hin zu den Fingernägeln, die zartrosa lackiert waren.
Von oben ertönte ein Klopfen. Wie auf ein Kommando stand Irmtraud auf und lief zur Tür hinaus.
Marion wandte den Kopf. »Tja, wenn Mutter befiehlt, muss man sofort Folge leisten.«
»Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?«, fragte er höflich.
»Alterszipperlein. Wir kennen das schon.«
»Oma spielt gern den sterbenden Schwan«, ließ Hannah verlauten und biss in ihr Brot. »Besonders, wenn Gäste da sind«, fügte sie kauend hinzu.
»Hannah!«, mahnte ihre Mutter. Aber ihr Gesichtsausdruck strafte sie Lügen. Sie hatte offenbar Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen.
»Das hast du doch selbst gesagt!«, entrüstete sich Hannah.
»Trotzdem ist es nicht schön, so von Oma vor anderen Leuten zu sprechen«, sagte sie ernst.
»Sie hört es doch nicht«, meinte Hannah lakonisch. Ihr Blick traf sich mit seinem. Er zwinkerte ihr verstohlen zu. Sie blieb mit ihm in Augenkontakt. Spätestens ab diesem Moment waren sie Verbündete.
Irmtraud kam zurück. »Ich koche für Mutter schnell einen Tee. Ihr braucht mit dem Essen nicht auf mich zu warten«, sagte sie, während sie in der Küche verschwand.
»Da waren’s nur noch zwei«, sagte Marion. »Wie bei den zehn kleinen Negerlein. Immer einer weniger.« Sie suchte Kilians Blick. »Jetzt wissen Sie auch, warum wir am Abend bevorzugt kalt essen.«
Eine Weile herrschte Schweigen am Tisch.
»Haben Sie sich schon ein bisschen umgeschaut?«, wechselte Marion das Thema. »Sind Sie mit Ihrer Wahl zufrieden? Es ist bei uns ja ziemlich bescheiden, was das Zimmer angeht.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte er lahm.
»Im oberen Stockwerk soll nach und nach alles renoviert werden. Damit wir mehr Zimmer vermieten können«, warf Hannah eifrig ein. Offenbar eine Vorstellung, die ihr gefiel.
»Darüber ist noch nicht das letzte Wort gesprochen«, unterbrach Marion ihre Tochter.
»Aber Oma hat es doch gesagt.«
»Oma sagt vieles, wenn der Tag lang ist.« Sie schob sich einen Happen Brot in den Mund. »Momentan können wir uns jedenfalls keine weiteren Renovierungsarbeiten leisten. Dafür ist einfach kein Geld da.«
»Könnten das denn nicht die Polen machen?«, fragte Hannah.
Marion warf einen schnellen Blick zu Kilian. »Die Polen haben mit der Arbeit im Weinberg schon genug zu tun.«
Kilian nahm sich eine weitere Scheibe Brot und bestrich sie mit Butter. Im Grunde interessierte es ihn wenig, ob der Löwenhof von irgendwelchen Polen renoviert wurde oder nicht. Er fand es äußerst angenehm, der einzige Gast zu sein.
»O Gott, schon so spät«, sagte Marion Lingat plötzlich und betupfte mit einer Serviette die Lippen. »Ich muss gleich weg. Hannah, räumst du den Tisch ab?« Sie lächelte Kilian zu. »Sie entschuldigen mich?«
»Aber ja!«, rief er mit Blick auf Hannah. Das schlafende pelzige Tier in ihm begann sich zu regen. Als Marion draußen war, stand er auf und stellte die Teller zusammen.
»Lassen Sie nur, ich mach das schon«, warf Hannah ein.
»Wenn ich dir helfe, geht es schneller.«
Sie sah überrascht auf. »Ich weiß nicht, ob das Mama recht ist«, sagte sie zögerlich. »Und Oma schon gar nicht. Gäste sind Gäste. Sie sollen nicht arbeiten.«
»Braucht ja keiner zu wissen«, meinte er mit Verschwörermiene.
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ja, wenn das so ist.« Sie lachte auf. Ein Lachen, wofür er alles tun würde.
»Dafür musst du mir danach noch ein wenig Gesellschaft leisten. Natürlich nur, wenn du Zeit hast«, fügte er schnell hinzu, in der Hoffnung, nicht allzu fordernd geklungen zu haben.
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