Apollofalter
derartige Sogkraft ausging, der er sich fast gewaltsam entziehen musste. Gleichzeitig wurde ihm auf unangenehme Weise bewusst, wie schnell er außer Puste kam und nicht richtig mit ihr Schritt halten konnte. Jetzt rächte es sich, dass er jahrelang keinen Sport getrieben hatte. Und auch sonst mit seinem Körper nicht gerade pfleglich umgegangen war.
Sie drehte sich zu ihm um. »Bin ich zu schnell?«, fragte sie mit schuldbewusster Miene.
»Ich genieße die Aussicht«, gab er ausweichend zurück, während er versuchte, seine Atemzüge zu mäßigen. »Der Blick von hier oben ist wirklich sehr schön«, fügte er hinzu. Schwindelerregend schön, hätte er sagen sollen.
»Ja, das finde ich auch. Für mich ist es die schönste Landschaft auf der ganzen Welt. Das denke ich oft, wenn ich durch die Weinberge gehe. Dort oben, wo die Fahne flattert«, sie wies den Steilhang hinauf, »ist einer meiner Lieblingsplätze. Blumslay. Von dort aus hat man einen ganz tollen Rundumblick.«
Sie blieb neben ihm stehen. Er konnte die Wärme spüren, die von ihr ausging. Er roch ihren Duft. Ein unschuldiger Mädchengeruch, der nicht durch irgendein Parfüm verfälscht wurde.
Ein melodisches Zirpen unterbrach die Stille. Das Klingeln eines Handys. Sie fasste in die Jackentasche. »Entschuldigung«, sagte sie höflich, während sie ein paar Schritte zur Seite trat. Einzelne Wortfetzen drangen an sein Ohr. Sie schien nicht sehr erfreut über den Anruf zu sein.
Scheinbar interessiert ließ er den Blick schweifen, wobei er aufmerksam auf das lauschte, was sie sagte.
»Ich will nicht«, sagte sie mit kaum unterdrücktem Zorn. »Wieso kapierst du das denn nicht? Ich hab’s dir doch schon tausendmal gesagt. Warum lässt du mich denn nicht endlich in Ruhe?« Mit einer heftigen Bewegung schaltete sie das Handy aus und ließ es zurück in die Jackentasche gleiten.
»Ärger?«, fragte er, ohne sie anzusehen.
»Ja ... ach ...« Offenbar wollte sie zu einer Erklärung ansetzen, doch dann überlegte sie es sich anders und schwieg. Ihre Gangart war wieder schneller geworden. Ehe er sich versah, war sie schon wieder ein paar Schritte voraus.
Er hatte Seitenstechen. Von der ungewohnten Anstrengung taten ihm die Oberschenkel weh. Aber das alles war unwichtig. Weil sie bei ihm war. Sein Nymphchen, das er endlich gefunden hatte.
Hannah, mein Püppchen.
Er musste sehr an sich halten, sie nicht pausenlos anzustarren. Ihre klare Aprikosenhaut, die kein Pickel verunzierte, mit den Blicken abzutasten.
Sie drehte sich zu ihm um. »Diese Schieferterrassen sind uralt. Schon im Mittelalter wurden sie von den Weinbauern angelegt.«
»Tatsächlich?«
»Ein Wunder, dass sie größtenteils immer noch intakt sind. Die steilen Felshänge hätte man anders gar nicht bewirtschaften können. Die Trockenmauern sind übrigens ideal für die weiße Fetthenne. Dort oben auf den Felsnasen legt er hauptsächlich seine Eier ab und die Falter können sich ungestört entwickeln.«
Er nickte. Die weiße Fetthenne, oder auch Mauerpfeffer genannt, war die einzige Futterpflanze für die Raupen des Apollofalters. Sie gedieh nur an extrem sonnenbeschienenen, kargen Geröllhalden und Mauern.
»Der ausgeschlüpfte Falter ernährt sich von Disteln, Flockenblumen und wildem Majoran. Zum Eierablegen fliegt er dann wieder die Fetthenne an. Dann ist der Kreislauf abgeschlossen«, fuhr sie fort. Dabei wirkte sie ein wenig wie eine ernsthafte Lehrerin, die ihrem gelehrigen Schüler etwas beibringen wollte.
»Behandelt ihr das in der Schule?«, fragte er.
»Ich bin in einer Biologie-Arbeitsgruppe«, antwortete sie. »Da machen wir oft Exkursionen in die Weinberge. Weil wir dieses besondere Mikroklima in den Steillagen haben. Hier gibt es ja nicht nur den Apollofalter, sondern auch andere seltene Tier- und Pflanzenarten. Sogar Kreuzottern will mal jemand gesehen haben.« Sie lachte. »Ich weiß nicht, ob das eine Finte ist. Wahrscheinlich hat derjenige sie mit einer Schlingnatter verwechselt. Die sehen Kreuzottern ziemlich ähnlich. Und Schlingnattern gibt es hier schon ein paar.«
»Machst du das freiwillig? Ich meine, das mit der Arbeitsgruppe?«, wollte er wissen. Er erinnerte sich daran, dass es, als er in Hannahs Alter war, wenig gegeben hatte, für das er sich mit ähnlichem Engagement eingesetzt hätte.
Sie nickte. »Wir haben eine tolle Lehrerin. Sie hat uns in einem Forschungsprojekt für Jugendliche unterstützt und angeregt, dass wir uns bei einem ausgeschriebenen
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