Apollofalter
betrachten. Ihre Nähe spüren. Fast meinte er, ihr Herz unter dem winzigen Busen klopfen zu hören. Eine prickelnde Unruhe erfasste ihn. Er war machtlos, gegen das wilde Tier in seinem Inneren konnte er sich nicht länger wehren. Heißer Nektar floss in seinen Adern, sobald ihn dieses Kind ansah mit seinen dichtbewimperten Aquamarinaugen. In all seiner Unschuld. Nun verzog sie den süßen Herzmund zu einem kleinen Lächeln und rückte unmerklich ein wenig näher zu ihm heran. Der Gedanke, sie ganz nah bei sich zu wissen, hatte etwas ungeheuer Verlockendes. Es war einer jener Momente, in denen ihn die Gesetze und Verbote dieser Welt nichts angingen. Er brauchte nur die Hand auszustrecken und dieses Püppchen mit dem Engelsgesicht würde ihm gehören.
6
Die Glockenschläge der nahegelegenen Liebfrauenkirche weckten sie an diesem Samstagmorgen aus dem Tiefschlaf. Sie blinzelte ein paar Mal, dann war sie wieder von dieser Welt. Ein langes freies Wochenende ohne Pflichten lag vor ihr! Hach, wie schön. Ich brauch nicht aufzustehen, dachte sie, während sie sich wohlig im Bett räkelte. Die Sonne schien durch die hellgelben Vorhänge ins Zimmer herein. Massenhaft Zeit, die sie nach Gutdünken füllen konnte. Niemand, der sie antrieb oder ihr reinreden wollte, wann sie aufzustehen habe und wann Frühstück zu machen sei. Oder welche Einkäufe zu tätigen seien. Der absolute Luxus!
Ein leises Geräusch ließ sie den Kopf wenden. »Hallo, Farinelli«, begrüßte sie ihren Kater. Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihm aus, um ihn zu locken. Noch immer zeigte er eine gewisse Scheu und hielt sich auf Distanz. Besonders bei abrupten Bewegungen setzte er erschrocken zurück, fauchte und machte einen Buckel. Aber es war schon viel besser geworden mit ihm. Zumindest hatte er sich daran gewöhnt, dass ihr Zuhause auch sein Zuhause war.
Sie dachte an den regnerischen Abend vor einem halben Jahr, an dem sie den Kater gefunden hatte. Nach einer Spätvorstellung im Kino war sie auf dem Heimweg gewesen, als aus einem Müllcontainer, an dem sie zufällig vorbeigekommen war, jämmerliche Schreie drangen. Sie glaubte erst, sie hätte sich verhört, doch das Jammern kam eindeutig aus dem Container. Als sie den Deckel zurückschob, hockte dort zwischen Unrat und Abfall ein völlig verängstigtes Kätzchen. Sofort hatte sich ihr mütterlicher Instinkt geregt. Ohne zu zögern, dennoch mit der nötigen Vorsicht, hatte sie das Tierchen aus dem Müll gefischt, es trotz heftigen Sträubens gestreichelt und beruhigend auf es eingeredet. Gleichzeitig brodelte in ihr die Wut. Was waren das bloß für Barbaren, die ein kleines Kätzchen in den Müll warfen?
Je länger sie das Tierchen streichelte, umso ruhiger wurde es. Kurz entschlossen nahm sie es mit nach Hause. In ihrem Küchenschrank fand sie noch ein paar Dosen Katzenfutter von ihrer kürzlich verstorbenen Katze, die über neun Jahre bei ihr gelebt hatte. Eigentlich hatte sie danach kein Haustier mehr gewollt. Aber vielleicht war dieses Kätzchen ein Wink des Schicksals. Es stürzte sich sofort auf das Fressen. Nicht lange danach begann es zu schnurren. Offenbar fühlte es sich in ihrer Gegenwart behütet und beschützt. Und weil sie im Kino gerade den Film »Farinelli« gesehen hatte und das Schreien des Kätzchens sie ein ganz klein wenig an die Falsetttöne des Opernkastraten erinnerte, erhielt es den Namen »Farinelli«.
Zwar war ein Kater auch nicht völlig anspruchslos, aber seine Gegenwart war nicht zu vergleichen mit der eines Mannes, mit dem man zusammen frühstücken sollte, der anfing, den Tag zu planen, etwas unternehmen wollte – dabei konnte man es doch so schön friedlich haben in den eigenen vier Wänden.
Eine Dose Katzenfutter oder ein Schälchen mit Milch – und das war’s dann bis zur nächsten Mahlzeit. Morgens, vor einem langen dienstfreien Wochenende, fühlte sie sich mit derlei Gedanken völlig im Reinen. Abends sah es dann manchmal etwas anders aus. Wenn der Kater das einzige Lebewesen war, das mit ihr das Bett teilte. Die wenigen Streicheleinheiten, die sie ab und zu erhielt, bekam Franca von ihrer Krankengymnastin, die sie wegen ihrer Rückenbeschwerden aufsuchte. Aber was sollte es – sie hatte es so gewollt. Dieses Leben hatte sie sich ausgesucht, nachdem sie mehr als zehn Jahre verheiratet gewesen war.
Wenn Georgina hier war, ihre fünfzehnjährige Tochter, dann ging es in ihren vier Wänden etwas lebhafter zu. Georgina lebte abwechselnd bei ihrem
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