Apollofalter
Georgina war nicht geringer geworden, obwohl der unerlaubte Ausflug gut ausgegangen war. Georgina und Kylie waren tatsächlich trotz Debbies ausdrücklichem Verbot zur Olympic Peninsula aufgebrochen. Jedoch bereits am Hafen von Seattle holte sie das schlechte Gewissen ein. Und Kylie als die behütete Tochter ihrer Mutter konnte schließlich Georgina zur Umkehr überreden. Seitdem hatten die beiden Zimmerarrest.
Franca kam an einer eingezäunten Wiese vorbei, auf der friedlich drei Pferde grasten. Ein Brauner, ein Apfelschimmel und ein braun-weiß Gefleckter. Der Braune hob den Kopf, schüttelte die Mähne und schnaubte. Ein majestätisches Tier. Schön anzusehen. Den Wunsch, sich auf den Rücken eines Pferdes zu setzen, hatte Franca nie verspürt. Beim Sport vertraute sie lieber ihren eigenen Beinen.
Sie merkte, wie sie langsamer wurde und versuchte, ihren vorherigen Rhythmus zu erreichen. Setzte die Stöcke weit nach vorn auf und öffnete beim Rückwärtsschwung die Hände. Das üppige Frühstück, das sie sich am späten Morgen gegönnt hatte, sollte erst gar keine Chance bekommen, sich auf ihren Hüften festzusetzen.
Seit gut einem Jahr übte sie sich mehr oder weniger regelmäßig in dieser Sportart. Am Anfang war sie sich ein wenig albern vorgekommen, wie sie da im Gehen mit den Stöcken stakte. Wie ein Langlaufskiläufer ohne Schnee. Inzwischen schwor sie auf die Macht der Stöcke, weil sie den Rhythmus vorgaben.
Der asphaltierte Weg schlängelte sich bergab. Durch die kerzengeraden Reihen der Rebstöcke schimmerte grüngoldenes Sonnenlicht. Sie wunderte sich, dass ihr trotz des schönen Wetters nur wenige Spaziergänger begegneten. Lediglich in den Weinbergen hatte sie ein paar Männer mit Spritzflaschen auf dem Rücken gesehen. Die kannten offenbar keinen Sonntag.
Eine gute halbe Stunde war sie bereits unterwegs. Eigentlich könnte sie jetzt umdrehen. Sie blieb einen Moment stehen und griff nach der Wasserflasche, die sie in einem Täschchen um die Hüfte gegürtet trug. Nahm ein paar Schlucke und verscheuchte eine hartnäckige Fliege, die sich ihr mitten ins Gesicht setzen wollte.
Sie stand vor einer dichten Hecke unterhalb einer Terrassenmauer. Allerhand Unkraut wucherte hier. Hohe Grasstängel und Brennnesseln. Weiße, filigran aussehende Blütendolden. Gelbe Knospen. Eine Pflanze mit weißen Blüten, deren Namen sie nicht kannte, rankte zwischen den dornigen Zweigen. Hinterhuber würde wissen, wie all diese Pflanzen heißen, dachte sie. Keiner kannte sich so gut in Flora und Fauna aus wie er. Oben im weißblauen Himmel schwebte ein großer Vogel. Vielleicht ein Habicht oder Bussard. Ein weißer Schmetterling flatterte dicht an ihrem Gesicht vorbei. Sie schraubte die Wasserflasche wieder zu und steckte sie zurück in den Gürtel. Sie wollte sich gerade wieder in Bewegung setzen, als mit einem Mal ein melodisches Zirpen ertönte. Es kam aus der Hecke, von dort, wo etliche Fliegen summten. Abwartend blieb sie stehen. Das Zirpen wiederholte sich. Dreimal. Viermal. Fünfmal. Dann war Stille.
Franca spürte, wie etwas unter ihre Haut kroch und sich langsam ein dumpfes Gefühl in Brust und Magen ausbreitete. Vorsichtig versuchte sie, mit den Carbonstöcken die Hecke zu teilen und zwischen den Zweigen hindurchzulugen. Weiter hinten, dicht an der Mauer, sah sie etwas Helles schimmern. Dazwischen ein roter Fleck. Die eben noch so friedliche Landschaft begann zu taumeln. In ihren Ohren rauschte das Blut. Ihre Gedanken zerstoben in unterschiedliche Richtungen, waren keine zusammenhängenden Gedanken mehr, nur noch wildes, beunruhigendes Geflacker. Inmitten des Gestrüpps lag eine schmale menschliche Gestalt, wie eine weggeworfene Stoffpuppe.
Der Druck breitete sich weiter in ihrem Körperinneren aus. Sie spürte den dringenden Wunsch, sich zu übergeben, gleichzeitig wollte sie das Würgen zurückhalten. Doch diese Körperfunktion hatte sie nicht im Griff. Sie spie neben der Hecke ins hohe Gras.
So lange bist du schon bei der Polizei und noch immer hast du dich nicht an solch einen Anblick gewöhnt! Sie wischte sich mit einem Papiertaschentuch über den Mund. Atmete ein paar Mal tief ein und aus. Bis sie merkte, dass das Zittern und die Übelkeit langsam nachließen. Ihren Mund spülte sie mit großen Schlucken Mineralwasser aus.
Noch vor wenigen Augenblicken hätte sie geschworen, dass hier die reinste Idylle sei. Jetzt nahm sie ihre Umgebung mit völlig anderen Augen wahr. Sie befand sich an einem Tatort.
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