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Apollofalter

Apollofalter

Titel: Apollofalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Oder zumindest an einem Fundort. Aber das Schlimmste war, dass sich in die Gestalt des toten Mädchens dort im dornigen Gebüsch überdeutlich ein anderes Bild schob: das ihrer Tochter Georgina. Sie wischte das Bild wieder weg. Zwang sich, klar und logisch zu denken.
    Mit klopfendem Herzen zog sie ihr Handy aus der Gürteltasche. Gut, dass sie es vorhin eingesteckt hatte. Sie rief das Telefonverzeichnis auf und wählte eine einprogrammierte Nummer. Nach viermaligem Freizeichen wurde am anderen Ende der Hörer abgenommen.
    »Hubi? Gott sei Dank. Kannst du mal schnell nach Winningen kommen? Es ist dringend.«
    »Franca. Wir sitzen gerade mit der Familie beim Kaffee. Darf ich dich daran erinnern, dass ich nicht im Dienst bin?«
    »Ich bin doch auch nicht im Dienst.« Es klang kläglich.
    »Und, warum machst du dann einen solchen Aufstand?«
    Sie versuchte, ihre Stimme in den Griff zu kriegen. Sachlich von dem Leichenfund zu berichten. »Es ist ... hier liegt ein totes Mädchen. In einer Hecke in den Weinbergen. Sie ist vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt. Schlank, schmal. Hellhäutig. Sie ist vollständig bekleidet.« So war es gut. In solch einem Moment war es wichtig, die Fakten für sich sprechen zu lassen und Distanz zu wahren. Die Dinge nicht zu nah an sich herankommen lassen. Genau wie man es ihr damals auf der Polizeischule beigebracht hatte. Noch heute hatte sie die Stimme ihres Ausbilders im Ohr: »Sobald ihr sachlich und überlegt an eine Aufgabe herangeht, gebt ihr störenden Gefühlen keinen Platz.« Doch kurz darauf brach sich das kleine Mädchen in ihr wieder Bahn. Das Mädchen, das nicht allein in den Keller gehen wollte. Das nachts ein Licht brennen ließ, weil es Angst vor den Gespenstern der Dunkelheit hatte.
    »Bitte, Hubi, komm her. Ich brauch dich jetzt«, stieß sie jämmerlich hervor.
    Sie mochte es nicht, wenn ihre Stimme so klang. So hilflos und flehend. Zudem meldete sich sofort ihr schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass seine Frau sich oft darüber beklagte, ihr Mann habe nie Zeit für die Familie. Nun störte sie ihn auch noch beim sonntäglichen Nachmittagskaffee. Weil sie sich diesem Anblick im Gebüsch nicht allein stellen wollte.
    »Was ist passiert?«, fragte er alarmiert.
    »Ich weiß es doch nicht. Ich bin hier beim Walken in den Winninger Weinbergen.«
    »Wo genau?«, erkundigte er sich.
    »Auf dem asphaltierten Weg, der vom Flugplatz abgeht.«
    »Okay. Ich weiß, wo das ist.«
    »Heißt das, du kommst?«, presste sie dankbar hervor. Ihr Herz wollte nicht aufhören, wild zu puckern.
    »Hast du sonst schon jemanden informiert?«
    »Nein. Du bist der erste.«
    »Gut, dann leite ich alles in die Wege.«
    »Du bist ein Schatz«, hauchte sie noch, bevor sie den Ausknopf drückte. Hinterhuber würde bald hier sein. Jetzt fühlte sie sich ein wenig sicherer. Langsam ging sie um die Hecke herum und spähte von der anderen Seite durch die dornigen Zweige hindurch. Das Mädchen trug weiße Shorts und ein rotes, kurzärmeliges T-Shirt. In unnatürlich gekrümmter Haltung lag sie auf dem Rücken. Das Gesicht sah unversehrt aus, jedoch ihr Haar war voller Blut. Sie musste am Hinterkopf verletzt sein.
    Vorsichtig tastete Franca sich mit der bloßen Hand durch die dornigen Zweige und berührte das Mädchen am Arm. Der Puls war nicht mehr fühlbar. Aber die Haut war noch warm. Sie konnte noch nicht lange tot sein.
    Als sie die Hand wieder zurückzog, verhakte sich eine dornige Ranke im Ärmel ihres T-Shirts. Die Dornen zerrissen den dünnen Stoff und drangen in die Haut. Hinterließen einen blutigen Kratzer, ähnlich wie damals, als sie Farinelli aus dem Müllcontainer geangelt hatte. Blutströpfchen traten wie kleine rote Perlen auf die Haut. Das T-Shirt konnte sie wegwerfen. Wieder dachte sie an Seattle und an Georgina. Und sie wünschte sich, ihre Tochter solle nach Hause kommen. Dann hätte sie sie im Auge und könnte sie beschützen. Damit ihr nicht so etwas passierte wie diesem Mädchen hier.
    Sie betrachtete den schmalen Körper, der von Zweigen umschlossen war wie Dornröschen. Wer bist du? Wieso hat niemand auf dich aufgepasst? Wo ist deine Mutter? Hast du keine Freundinnen? Was machst du allein hier in den Weinbergen?
    Nur mühsam hielt Franca die Tränen zurück. Dann sah sie in den strahlend blauen Himmel. An einem solch hellen Sonntagnachmittag dachte normalerweise niemand an ein Verbrechen.
    Sie ging um das Gebüsch herum, den Blick fest auf den Boden geheftet. Dort schimmerte etwas

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