Apollofalter
einen Zettel, als sie ins Büro zurückkam. Sein Bayernjanker hing hinter ihm über der Stuhllehne.
»Vielen Dank, Frau Nachtigall, ich denke, dass uns diese Auskunft ziemlich weiterhilft.« Er legte auf. Neben dem Computer stand ein Becher, aus dem das Ende eines Teebeutels baumelte.
»Mit wem hast du denn gerade geflirtet?« Franca gönnte sich den zweiten Espresso für diesen Tag und naschte ein Bacio. Baci, das waren Schokolade-Nuss-Bällchen, die nach ihrer Kindheit schmeckten. Damals, als ihr Vater den kleinen Delikatessenladen in der Entenpfuhlgasse führte, gehörten Baci, die wörtlich übersetzt »Küsschen« hießen, mit zum Sortiment. Und wenn die kleine Francesca besonders lieb war, durfte sie in die blaue Dose mit den Silbersternen greifen und eines von den Baci naschen. Sie mochte sie nicht nur wegen der Schokolade, sondern sie war jedes Mal begierig auf die Sprüche gewesen, die im Einwickelpapier steckten. Diese Neugier war geblieben.
Sie entrollte die sternenbedruckte Silberfolie und strich das darin liegende Pergamentpapier mit dem blaugedruckten Spruch glatt. » Love me, when I deserve it least, as that is when I’ll need it most«, stand dort in italienischer und englischer Sprache. Zugeordnet wurde der Spruch einem »anonimo«.
Sie lächelte, nahm den Spruch und warf ihn samt Sternchenpapier in den Abfall. Die gelben Jalousien vor dem Büro-fenster waren halb heruntergelassen. Ein Sonnenstrahl traf die gemalte Sonne oberhalb von Rosina Wachtmeisters Katze. Obwohl die Fenster gekippt waren, war es im Büro unerträglich heiß. Eine Temperatur, die die zahlreichen Kakteen auf dem Fensterbrett offensichtlich liebten. An einem der Stacheldinger konnte sie zwei zartrosa Knospenblüten ausmachen, die halb geöffnet waren. Sah schon irgendwie hübsch aus.
»Ein sehr ergiebiger Flirt.« Hinterhuber lachte. »Du wirst staunen: Dieser Kilian war zwar wirklich mal an der Mainzer Uni beschäftigt. Aber das ist lange her. Man hat ihn gefeuert.«
Sie hatte gerade die Tasse an den Mund gehoben. Ohne zu trinken, setzte sie sie wieder ab. »Ach.«
»Zuerst haben sie sich geziert und wollten mir keine telefonische Auskunft geben. Aber dann bin ich an eine redselige Studentin geraten. Und die hat gezwitschert.«
»Frau Nachtigall.«
»Du sagst es.« Hinterhubers Augen hinter der Goldrandbrille funkelten belustigt. »Und jetzt halt dich fest: Vordergründig hat man diesen Kilian wegen seines Alkoholpro-blems geschasst, das er nicht mehr im Griff hatte. Wenn er nüchtern war, war er wohl ein ruhiger und angenehmer Zeitgenosse. Aber im Suff hat er sich schon mal an kleine Mädchen herangemacht. Und das scheint ihm letztendlich das Genick gebrochen zu haben.«
»Kleine Mädchen«, murmelte Franca und nahm einen Schluck. »Ich nehme an, so alt wie Hannah?«
»Etwas jünger.«
»Ich meine, so alt wie Hannah wirkte.«
Es war immer wieder dasselbe. Egal, ob sie einen angesehenen Beruf ausübten oder Ungelernte waren. Mit Intelligenz hatte eine pädophile Neigung wohl wenig zu tun. Sie war in allen Schichten und Berufssparten zu finden. Und es war ein Problem, das fast ausschließlich Männer betraf. Nur ganz wenige Missbrauchsdelikte von Frauen waren ihr bekannt. Sie sah diesen Kilian vor sich. Wie er in Tränen ausgebrochen war. Und wie sie in diesem Moment auch noch Mitleid empfunden hatte. Dann, als sie erfahren hatte, dass er lediglich ein Gast war, war ihr dieses Gebaren reichlich merkwürdig vorgekommen.
Sie seufzte tief. Hatte sie es nicht gesagt? Manchmal waren die Dinge einfach. Erschreckend einfach.
»Ich denke, wir sollten uns schleunigst mit diesem Kilian unterhalten. Frankensteins Bericht ist übrigens auch schon da.« Hinterhuber wies auf Francas Schreibtisch. Oben auf einem nicht sehr ordentlichen Stapel lag ein blauer Hefter. »Einen Unfall schließt er zu hundert Prozent aus. Jetzt hast du’s schriftlich.«
Franca nahm den Hefter in die Hand und überflog die einzelnen Blätter. Der Sachverhalt wurde so dargestellt, dass Hannah sich bei Tatausübung im Weinberg oberhalb der Mauer befunden haben musste. Etliche abgeknickte Reben und ein umgestürzter Pfahl deuteten auf mögliche Kampfspuren. Der Täter hatte mehrfach mit dem Schieferbrocken auf ihren Hinterkopf eingeschlagen. Daraufhin war sie auf dem abschüssigen Gelände gestürzt und von der Mauerkrone herunter hinter den Heckenrosenbusch gefallen. Den Stein, an dem Haare und Blut des Opfers klebten, hatte der Täter weit von sich
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