Apollofalter
durchaus als »gutaussehend« und »charmant« bezeichnet. Vielleicht sogar als »vertrauenswürdig«, obwohl das unter den gegebenen Umständen schwer einzuschätzen war. Sowohl ihre Menschenkenntnis als auch ihre kriminalistische Erfahrung mahnten sie bei diesem Angeklagten zu höchster, wenn nicht gar allerhöchster Vorsicht. Während ihrer Befragungen hatte sich Francas Hypothese immer mehr verfestigt, dass der Angeklagte ein kaltblütiger Gewaltverbrecher war, der seine wahre Persönlichkeit hinter der Maske des Unschuldslamms verbarg. Einer, der zu jener Sorte Männer gehörte, die glaubten, sich alles erlauben zu können und damit in der Regel ungeschoren davonkamen.
Es gab Zeugenaussagen, dass Julius Melzer manches Mal die Hand ausgerutscht war. Dass er mit einer Schere seine Lebensgefährtin erstochen hatte, war schließlich der Endpunkt eines Jahre andauernden Beziehungskrieges. In einem wahren Blutrausch hatte er hinterrücks auf sie eingestochen. Insgesamt zweiundvierzig Mal. Anschließend war er äußerst geschickt vorgegangen. Er legte falsche Fährten und vernichtete sämtliche Spuren, die auf ihn verwiesen. So stand es in der Anklage.
Doch der Beschuldigte war nicht nur ein äußerst gutaussehender, sondern auch ein smarter Mann. Vor Gericht gab er eine bühnenreife Vorstellung ab, mit der er letztendlich seinen Freispruch erwirkt hatte.
»Damit hätte ich wirklich nicht gerechnet«, bemerkte Francas jüngerer Kollege, der neben ihr vor dem Justizgebäude stehen geblieben war. Bernhard Hinterhuber hatte ebenfalls genug Arbeitsstunden investiert und damit manchen Ehekrach zu Hause heraufbeschworen. Im Gegensatz zu ihrem Kollegen war Franca jedoch niemandem Rechenschaft schuldig und so gab es auch keinen Partner zu Hause, der sich über zu viele Überstunden beschwerte. Trotzdem ärgerte sie sich. Und nicht zu wenig.
»Das war doch die reinste Farce da drinnen«, begann sie zu wettern. »Oder siehst du das anders?«
Bernhard Hinterhuber nahm seine Goldrandbrille ab und begann, heftig mit einem Taschentuch darüber zu reiben. »Ich könnte ...«, begann er zwischen den Zähnen hervorzupressen.
»Ja?«, ermunterte ihn Franca, den Blick aufmerksam auf ihn gerichtet. So gern würde sie erleben, wie Hinterhuber die Contenance verlor. Nur ein einziges Mal sollte der korrekte Sittenwächter von ihm abfallen, damit sie endlich den richtigen Bernhard Hinterhuber kennen lernte. Einen Menschen mit Gefühlswallungen. Doch diesen Gefallen tat er ihr auch diesmal nicht. Er vollendete seinen Satz nicht, sondern machte lediglich eine abfällige Handbewegung, bei der beinahe seine Brille heruntergefallen wäre.
Also hielt auch sie sich zurück. Gegenüber Hinterhuber zwang sie sich oft, ihr Temperament im Zaum zu halten. Seit ihm einmal herausgerutscht war, angesichts ihrer Ausdrucksweise könne man denken, sie sei in der Gosse großgeworden, zügelte sie ihre lautstarken Gefühlsausbrüche. Und auch mit ihrer Sprachwahl ging sie sorgsamer um. Wenigstens in seiner Gegenwart.
»Schon erstaunlich, wie dieser Smartieboy alle um den Finger gewickelt hat«, sagte sie in gemäßigtem Tonfall. »Da konnte man durchaus was dabei lernen.«
Hinterhuber hatte seine Brille wieder aufgesetzt und bedachte sie mit einem schrägen Blick. »Meinst du?«
Die Version des Angeklagten war natürlich eine ganz andere gewesen als die von Polizei und Staatsanwaltschaft. Melzer hatte angegeben, zum Tatzeitpunkt außer Haus gewesen zu sein. Nichtsahnend sei er von einer Fortbildung heimgekommen und habe sich auf einen gemütlichen Abend gefreut. Wie gelähmt sei er gewesen, als er seine Freundin blutüberströmt auf dem Sofa vorfand, hatte er mit zittriger Stimme berichtet. Anschließend sei er schreiend aus dem Haus gelaufen, um Hilfe zu holen. Die Nachbarn, die erst seit kurzem im Haus nebenan wohnten, bestätigten dies und bedauerten den armen Mann, den sie als freundlich und zuvorkommend erlebt hatten.
Für Julius Melzer sprach sein sympathisches Äußeres. Er wirkte absolut nicht so, wie man sich gemeinhin einen Verbrecher vorstellte. Zudem übte er einen ehrbaren Beruf aus. Er war Arzt, führte eine Allgemeinpraxis und konnte auf eine Reihe zufriedener Patienten verweisen, die allesamt bereit waren, zu seinen Gunsten auszusagen.
»Glauben Sie wirklich, dass so ein Gewaltverbrecher aussieht?«, fragte eine korpulente Patientin, die als Zeugin geladen war. Dabei deutete sie auf den sichtbar gedrückten Angeklagten. Sie
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