Apollofalter
auf ihn zu. Ihre zierliche Gestalt reichte ihm bis zu den Schultern. Als sie zu ihm aufsah, bemerkte er die geplatzten Äderchen auf ihrer knitterigen, pergamentartigen Haut. Durch ihr schütteres, rötlichbraun gefärbtes Haar schimmerte die Kopfhaut.
»Herr Kilian. Herzlich willkommen. Lingat.« Ihr Händedruck war erstaunlich fest. »Ich möchte mich für meine Tochter Marion entschuldigen. Schön, dass Sie trotzdem den Weg hierher gefunden haben. Bitte nehmen Sie doch Platz.« Sie wies auf einen leeren Stuhl. »Unsere Gäste schätzen den familiären Rahmen. Ich hoffe, das kommt Ihnen entgegen. Meine Enkelin Hannah haben Sie ja schon kennen gelernt. Das hier ist meine Tochter Irmtraud.« Sie wies auf die füllige Frau, die verschüchtert lächelte. Auf ihrer rechten Wange prangte ein schlecht überschminktes Feuermal.
»Sie haben sicher Hunger nach der langen Fahrt. Ich hoffe, Sie mögen Rindfleisch mit Meerrettichsoße? Vorweg gibt es Markklößchensuppe. Das ist ein traditionelles Winzeressen. Was möchten Sie trinken? Ein Gläschen Wein?«
»Nein, danke. Keinen Wein. Wasser bitte.« Er setzte sich auf den ihm zugewiesenen Platz.
»Wein ist gesund. Da bekommt einem das Essen besser«, warf die Füllige mit einem Kichern ein. »Das hat mein Vater immer behauptet.«
Mit ihren rundlichen Formen erinnerte sie ihn entfernt an die Statur seiner Großmutter. Allerdings waren bei Irmtraud Lingat Busen, Bauch und Hüfte noch etwas üppiger ausgeprägt, was sie unter einem sackartigen braunen Kleid zu verstecken suchte.
»Irmchen«, tadelte die Mutter die Tochter mit abschätzigem Blick. »Wenn Herr Kilian doch keinen Wein mag. Ist eben nicht jedermanns Geschmack, nicht wahr?«, wandte sie sich mit gekünstelt freundlicher Miene an ihn.
Er überlegte, ob er etwas Erklärendes antworten sollte, ließ es dann aber sein. Die Suppe erinnerte ihn an zu Hause. Wenn er aus der Schule kam, hatte oft ein großer Topf mit dampfender Markklößchensuppe auf dem Herd gestanden. Manchmal hatte er drei Teller geschafft, so gut hatte sie ihm geschmeckt. Auch diese hier war nicht schlecht.
Besteck klapperte auf Porzellan. Niemand sprach mehr etwas. Dann wurde der Hauptgang serviert. Das Rindfleisch war ausgesprochen zart. Wahrscheinlich Tafelspitz. Die Meerrettichsoße trieb ihm die Tränen in die Augen. Aber es schmeckte vorzüglich. Er nahm einen Schluck Wasser und spürte die Blicke von drei weiblichen Wesen auf sich gerichtet. Wie sie ihn abtasteten. Musterten. Ihn einzuschätzen versuchten. Ab und zu begegnete er den neugierigen Augen des Mädchens. Hannah hieß sie. Nicht Melisande. Melisande war ein Traum. Aber Hannah saß leibhaftig hier mit ihm am Tisch. Er fing ihren Blick auf. Wieder fiel ihm das Edelstein-Blau ihrer Augen auf. Er lächelte sie an. Wie verdammt hübsch du bist, kleine Hannah. Er konzentrierte sich wieder auf sein Essen. »Es schmeckt sehr gut«, lobte er und dachte an seine einsamen, schnell und fantasielos zusammengewürfelten Mahlzeiten. »So was Köstliches habe ich lange nicht gegessen.«
»Für die Küche ist Irmchen verantwortlich.« Die Mutter wies gönnerhaft auf ihre Tochter.
Wie auf ein Stichwort hin begann Irmchen loszusprudeln. »Ich koche leidenschaftlich gern. Manchmal kriege ich Aufträge für große Gesellschaften. Da muss man sich ganz schön ranhalten, sag ich Ihnen. Bis man erst mal alles geplant hat, dann die vielen Einkäufe. Aber das Kochen macht mir wirklich großen Spaß. Man muss den Zutaten ihre Geheimnisse entlocken. Damit sie sie auf dem Teller entfalten können.«
»Irmchen, du musst nicht gleich Herrn Kilian mit deinem Lieblingsthema überfallen«, stoppte die Alte die Tochter, die sich bei den tadelnden Worten ihrer Mutter verschämt über ihren Teller beugte. Das Feuermal unter der Schminke blühte, während sie mit hastigen Bewegungen Essen in sich hineinschaufelte.
Fast wie früher bei uns zu Hause, dachte Kilian. Trautes Heim, Glück allein. Merkwürdig, dass ihm die Seniorin anfangs wie eine Märchenfee vorgekommen war. Nun erinnerte sie ihn eher an eine böse Hexe.
Zu Hause war seine Mutter immer der Rammbock gewesen. Die Schwiegertochter. Das Flüchtlingsmädchen aus Ostpreußen, das sich im Haus seines Vaters eingenistet hatte. Das war die Meinung seiner Großmutter. Honig hätte sie ihrem Sohn ums Maul geschmiert. Den Verstand hätte sie ihm verkleistert. Großmutter scheute sich nicht, dies laut und vor allen Leuten zu äußern. Und seine Mutter hatte
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